von Judith Schuck, 12.03.2021
Mit Klackern und Surren gegen Kinderarbeit
#Lieblingsstücke, Teil 6: Das Saurer Museum Arbon hat viele aussergewöhnliche Exponate, aber eine grüne, geniale Maschine hat es unserer Autorin besonders angetan.
Ohne die Saurers wäre Arbon wohl heute nicht das, was es ist. Die Industrie verhalf der Stadt zu Wachstum. Heute ist Arbon die drittgrösste Stadt im Kanton, die auch kulturell etwas zu bieten hat.
Das ist darauf zurückzuführen, dass die Saurer AG als grösste Arbeitgeberin viele ArbeiterInnen anzog. Sie bescherten der Stadt am See den Beinamen «rotes Arbon». Das Saurer Museum in der Schmiedgasse 5 erinnert an die Hochzeiten der Industrialisierung und pflegt dieses Erbe mit Stolz.
Alles begann mit der Stickerei. Doch neben Stick- und Webmaschinen sind in der ehemaligen Betriebshalle auch ausgestellt, was dem Namen Sauerer zu Weltruhm verhalf: die Lastwagen.
Ein Saurer-Lastwagen als Pferdekutsche
1903 ward der erste Saurer-Lastwagen geboren – für Automobile, die zwar ebenfalls in Arbon hergestellt wurden, glaubte Adolph Saurer dauerhaft keine Abnehmer zu finden. Und die Textilbranche war zu sehr auf die Mode angewiesen, somit ein unsicheres Pflaster. Seine nie in Serie, sondern nach Kundenwünschen gefertigten Lastfahrzeuge, exportierte die Saurer AG in alle Welt.
Nun könnte man meinen, mein Lieblingsstück sei eines dieser eindrucksvollen, auf Hochglanz polierten und liebevoll in Stand gehaltenen Oldie-Brummies. Zum Beispiel der Saurer 3TC von 1917, der in eine Pferdekutsche umfunktioniert werden konnte. Es gab nämlich Zeiten, in denen in Graubünden keine motorbetriebenen Fahrzeuge erlaubt waren.
Wer vom Thurgau ins Tessin wollte, musste den Kanton per tierischer Pferdestärken queren. Aber das ist nicht mein Lieblingsstück. Und auch nicht die wirklich eindrucksvolle Jacquardmaschine, die der Überlieferung nach als erste weltweit mehrere Farben in grosser Breite weben und so prachtvolle Stoffe erzeugen konnte.
Eine geniale Maschine von Henri-Levy und Niklaus Eggli
Mein Lieblingsstück ist eine grünlackierte, zirka 1,30 Meter hohe und 50 Zentimeter lange, 40 Zentimeter breite Maschine, ausgestattet mit zahlreichen Kurbeln, Federn und Hebeln: die Fädelmaschine von Henri-Levy und Niklaus Eggli.
Die Industriellen aus Rorschach (Starrag) fertigten ein geniales Ding, das von Saurer und anderen in ähnlicher Weise nachgebaut wurde. Der Clou sind drei Häkchen, die nicht nur per Mechanik Fäden in Nadeln für Stickmaschinen einfädeln, sondern mit einem eindrucksvollen Mechanismus am Ende des Fadens ein Knötchen machen können.
Die Erfindung sorgte für ein Ende der Kinderarbeit
Bis Ende des 19. Jahrhunderts gab es rund 20‘000 Handstickmaschinen in der Ostschweiz. Die St. Galler Spitze ist bis heute berühmt. Der Name täuscht, sie sind nicht handlich, sondern riesig. Je nach Typ war eine Maschine mit 200 bis 450 Nadeln bestückt. Diese wurden bis zur Erfindung der genialen Fädelmaschine von Kindern bearbeitet: Morgens vor der Schule, in der Mittagspause und abends nach Schulschluss war es Aufgabe von PrimarschülerInnen, in mühsamer, monotoner Handarbeit in diese unzähligen Nadeln mit mittiger Öse Fäden einzufädeln.
Zwar war es nicht das grosse Herz für Kinder, das den Erfindungsreichtum der Industriellen antrieb, sondern Gesetze und Verbote, die Kinderarbeit bekämpfen wollten. Dennoch erlöste die Fädelmaschine im ausgehenden 19. Jahrhundert Tausende von Kindern von ihrem harten Los und gab ihnen hoffentlich wieder ein Stück Kindheit zurück.
Die Serie #Lieblingsstücke und wie Du mitmachen kannst
In unserer neuen Serie #Lieblingsstücke schreiben Thurgaukultur-KorrespondentInnen über besondere Kunstwerke im Kanton. Das ist der Start für ein grosses Archiv der beliebtesten Kulturschätze im Thurgau. Denn: Wir wollen auch wissen, welches ist Dein Lieblings-Kunststück aus der Region?
Skulpturen, Gemälde, historische oder technische Exponate, Installationen, Romane, Filme, Theaterstücke, Musik, Fotografie - diese #Lieblingsstücke können ganz verschiedene Formen annehmen. Einige der vorgestellten Werke stehen im öffentlichen Raum, manche sind in Museen zu finden, andere wiederum sind vielleicht nur digital erlebbar. Die Serie soll bewusst offen sein und möglichst viel Vielfalt zulassen.
Schickt uns eure Texte (maximal 3000 Zeichen), Fotos, Audiodateien oder auch Videos von euch mit euren Lieblingswerken und erzählt uns, was dieses Werk für euch zum #Lieblingsstück macht. Kleinere Dateien gerne per Mail an redaktion@thurgaukultur.ch, bei grösseren Dateien empfehlen wir Transport via WeTransfer.
Oder ihr schreibt einen Kommentar am Ende dieses Textes oder zum entsprechenden Post auf unserer Facebook-Seite. Ganz wie ihr mögt: Unsere Kanäle sind offen für euch!
Alle Beiträge sammeln wir und veröffentlichen wir sukzessive im Rahmen der Serie. Sie werden dann gebündelt im Themendossier #lieblingsstücke zu finden sein.
Von Judith Schuck
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