von Inka Grabowsky, 14.06.2024
Mehr als man denkt, aber weniger als man sich wünscht
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Wie steht es um Kunst und Kultur im Thurgau? Das war die grosse Frage bei einer Podiumsdiskussion in Rahmen der Foto-Ausstellung von Francis Dercourt in Frauenfeld. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
«Ich erlebe die Thurgauer Bevölkerung als der Kultur freundlich zugewandt, aber nicht gerade als brennend interessiert», sagt Isabelle Krieg. Sie sitzt bei der Diskussion über Bedeutung und Perspektiven der Thurgauer Gegenwartskunst als Vertreterin der Kreativen auf dem Podium - direkt vor ihrem Portrait, das Francis Dercourt fotografiert hat.
Krieg, die am 19. Juni einen Förderbeitrag des Kantons bekommt, ist vor fünf Jahren nach Kreuzlingen gezogen. Sie hat die Beobachtung gemacht, dass sie damit gegen den Strom schwimmt: «Jüngere Künstler verlassen den Kanton. Die Kulturszene ist leicht überaltert.» Peter Stohler, der Direktor des Kunstmuseums Thurgau mit Wohnsitz in Zürich, stimmt zu. «Ich kenne erstaunlich viele Kunstschaffende mit Thurgaubezug, die nicht mehr hier wohnen. Allerdings würde ich selbst nicht sagen, der Thurgau sei provinziell. Er ist peripher.»
Michael Lünstroth, der Redaktionsleiter von thurgaukultur.ch, widerspricht: «Ich bin seit acht Jahren bei thurgaukultur und immer wieder überrascht, wie vielfältig die Kulturlandschaft ist. Zur Wahrheit gehört aber auch: Vieles hängt von ehrenamtlichem Engagement und einzelnen Personen ab. Strukturell ist die Kultur im Thurgau in vielen Bereichen stark unterfinanziert.» Da es kein urbanes Zentrum gäbe, sei wenig verwunderlich, dass der Blick auch mal nach Konstanz, Winterthur oder St. Gallen wandere.
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Viel geboten im Thurgau
«Kultur findet nicht nur im Museum statt. Sie steht und fällt mit denen, die sie machen. Und es geht viel im Thurgau», sagt aus dem Publikum Ursula Bollack-Wüthrich. Das Mitglied von Kunstthurgau gehört ebenfalls zu den Künstlern, die Francis Dercourt Modell gestanden haben.
Der Fotograf hatte in Laufe der vergangen zwei Jahre 34 bildende Künstler und Künstlerinnen aufgesucht und sie jeweils mindestens einen halben Tag bei der Arbeit begleitet. «Es gab gute Gespräche, und schliesslich waren die Menschen so entspannt, dass gute Bilder entstanden sind», sagt er.
Er sei allerdings erstaunt gewesen, wie unterschiedlich die Arbeitsumstände der Künstler seien. «Von prekären Verhältnissen bis zum schicken modernen Atelier war alles dabei – aber niemand hätte ein anderes Leben führen wollen.»
Mehr Geld vom Staat wäre gut
Kulturpublizist Alex Bänniger, der bei der Diskussion als Moderator fungierte, wundert sich, dass die Kulturszene schweigend hingenommen hätte, dass sämtliche kantonalen Museen im Thurgau unter den Sparhammer geraten seien. «Neubauten, Erweiterungen oder Sanierungen: Alles verzögert sich.»
Man spare bei der Kultur, weil sie keine Lobby habe, heisst es lapidar aus dem Publikum: «Die Künstler hocken in ihren Ateliers und kochen ihr eigenes Süppchen. Sie müssten aufwachen.» Isabelle Krieg räumt ein, dass sie sich nicht ausnehmen könne. «Die Zeit ist eben immer zu knapp. Ich war in meinem Hamsterrad und hatte von manchen Problemen gar nichts mitbekommen. Aber nun sehe ich zum ersten Mal in die Weite.»
Judith Villiger, die seit acht Jahren in Steckborn mit finanzieller Unterstützung aus dem Lotteriefond das Haus zur Glocke führt, mag den Vorwurf der Untätigkeit nicht auf sich sitzen lassen. «Ich schaffe einen Raum für Ausstellungen für Thurgauer Künstler und Künstlerinnen. Doch es ist schade, dass nicht noch mehr Kulturschaffende am Diskurs bei uns teilnehmen.»
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Einigkeit macht stark
«Es ist ein Wunder, dass die Kulturszene im Thurgau trotz der Rahmenbedingungen so lebendig ist», konstatiert Alex Bänninger. «Was müssen wir tun, um das Wunder zu erhalten?» Alle sind sich einig: «Zusammenhalten und eine Lobby bilden». Hoffnung macht ihnen die IG Kultur Ost, die sparten- und kantonsübergreifend ein Sprachrohr der Kulturschaffenden gegenüber Politik und Öffentlichkeit sein will.
Im Gespräch im Frauenfeld entstanden sogar konkrete Anregungen: Die Kunstschaffenden wünschen sich die Wiederbelebung der Werkschau von regional verwurzelten Kreativen, um sichtbarer zu werden. «Das Heimspiel, das stattdessen stattfindet, ist ein viel grösseres Format», heisst es aus dem Publikum. «Da gibt es viel zu viele Bewerbungen aus Nachbarkantonen und Nachbarländern, als dass wir Thurgauer uns alle durchsetzen könnten.» Museumsdirektor Peter Stohler zeigte sich gesprächsbereit.
Welche Verantwortung haben die Medien?
Niemand im Publikum wie auch auf dem Podium ist zufrieden mit der Berichterstattung über Kunst-Ausstellungen in der Tagespresse. «Es fehlt der Kultur die öffentliche Resonanz, die sie verdient. In der Thurgauer Zeitung etwa findet das Thema kaum noch statt», so Alex Bänninger.
Peter Stohler hat sich arrangiert: «Der Niedergang des Kulturjournalismus ist ein schweizweiter Trend. Wir in der Kartause wollen mit einem neuen Förderverein entgegensteuern, um eine breitere Abstützung in der Öffentlichkeit zu bekommen.» Michael Lünstroth plädiert mit einem Lächeln für eine andere Lösung: «Es müssen eben viel mehr Leute den Newsletter von Thurgaukultur abonnieren. Dann wissen sie Bescheid, was läuft im Thurgauer Kulturleben.»
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Zur Ausstellung
Die Ausstellung von Francis Dercourt (Bild: Inka Grabowsky) im sogenannten «Glaspalast», dem Verwaltungsgebäude des Kantons in Frauenfeld, ist noch bis Sonntag, 16. Juni, zu sehen.
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Von Inka Grabowsky
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