von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 21.08.2023
Licht und Schatten
Während der Pandemie wurde der Güttinger Fotograf Mario Baronchelli durch das Projekt «Abgesagt» bekannt. Jetzt zeigt er neue Arbeiten in der Remise Weinfelden, die über den Sommer entstanden sind. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Es gibt Menschen, die behaupten: Fotografie entsteht vor allem aus dem Moment heraus. Man müsse halt zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Der Güttinger Fotograf Mario Baronchelli würde diese Haltung vermutlich mit einem entschiedenen „Ja, aber…“ kommentieren.
Denn manchmal muss man dem Moment vielleicht auch auf die Sprünge helfen. Bei Porträts zum Beispiel. „Es ergibt sich immer etwas Cooles, man muss aber die Geduld haben darauf zu warten“, sagt Baronchelli. Einerseits. Andererseits ist es aber schon auch so, dass der Güttinger Fotograf darauf achtet, diesem Moment, möglichst einladende Bedingungen zu schaffen.
Eine App, die über den Sonnenstand informiert
Und da können digitale Helfer sehr dankbar sein. Um die richtigen Lichtstimmungen nicht zu verpassen, arbeitet Mario Baronchelli unter anderem mit einer App, die ihm über den jeweiligen Sonnenstand informiert. Dann weiss er aus seiner Erfahrung, wie das Licht fällt und was das mit dem Schatten macht. Wie sich das auf seine Arbeit auswirkt, das kann man ab dem 26. August in der Remise Weinfelden sehen.
Dann öffnet die Ausstellung, die er in den vergangenen Monaten im Sommeratelier der Kulturkommission der Stadt Weinfelden, erarbeitet hat. Interessiert hat ihn dabei vor allem, wie Licht und Schatten miteinander spielen und wie sich das in einem alten Gebäude wie der Weinfelder Remise dokumentieren kann. Im März hat er seine Arbeit in Weinfelden aufgenommen. „Mich hat vor allem gereizt zu sehen, was die unterschiedlichen Wetterlagen mit dem Haus und der Umgebung machen und wie das Licht und der Schatten das Gebäude fluten“, sagt Baronchelli bei einem Gespräch in der Remise im Juni.
Bürger:innen-Beteiligung? Gar nicht so einfach in Weinfelden.
Ziel sei es auch gewesen, die Weinfelder Bevölkerung zu beteiligen. Sie waren eingeladen zu bestimmten Terminen in die Remise zu kommen und sich von Baronchelli gratis fotografieren zu lassen. Aber die Weinfelder:innen hatten offenbar eher wenig Interesse daran, oft sei er bei den angegebenen Terminen alleine geblieben. Er wusste sich anders zu helfen und hat nun stärker auf das Gebäude in seiner Arbeit fokussiert.
Mario Baronchelli ist in der Region kein Unbekannter. Während der Pandemie hat er das viel beachtete Projekt «Abgesagt» lanciert, zuvor arbeitete er auch als Fotograf für das Open Air St. Gallen, die Grabenhalle und das Kulturfestival St. Gallen. Der Weg dahin war eher ungewöhnlich. Ursprünglich hat er Internetseiten entwickelt. „Bis mich jemand gefragt hat, ob ich nicht auch Fotos für die Website machen könnte. Das habe ich dann gemacht und dabei gemerkt, dass fotografieren viel schöner ist als programmieren.“
Fotojournalismus studiert, aber in den Journalismus? „Nein, danke“, sagt der Fotograf
Die ersten Kniffe des Handwerks hat er sich erst selbst beigebracht, später studierte er berufsbegleitend anderthalb Jahre Fotojournalismus am MAZ in Luzern. In den Journalismus zog es ihn danach nicht. Woran das lag? „Fotos werden in den Medien oft nicht wertgeschätzt, zumindest nicht so, dass es finanziell attraktiv wäre für Medien zu arbeiten“, sagt Mario Baronchelli. Ausserdem passe seine Arbeitsweise nicht so gut in den Journalismus, findet er. „Ich arbeite eher dokumentarisch, im Journalismus ist das meiner Erfahrung nach, nicht so gefragt.“
Neben der Konzertfotografie („Nichts ist schwieriger als in schlecht beleuchteten Konzertsälen zu fotografieren.“) verlegte er seinen künstlerischen Schwerpunkt auf Architektur- und Porträtfotografie. Dabei mochte er gerade Porträts lange eigentlich gar nicht. „Ich sage Menschen ungerne, wie sie sich bewegen sollen und ich zudem weiss, wie unangenehm es sich für Leute anfühlen kann, die nicht gerne vor einer Kamera stehen“, erklärt Baronchelli.
Die Schwierigkeit der Porträtfotografie
Oberstes Ziel für ihn bei Porträtaufnahmen: „Fotograf und Fotografierter sollen eine gute Zeit miteinander haben.“ Um die Situation aufzulockern hat er sich eigene Methoden erarbeitet: „Ich versuche immer zu erklären, was ich gerade mache, damit die Leute wissen, was, weshalb geschieht.“ Kommunikation ist also wichtig, aber auch nur wohl dosiert. „Wenn ich jemanden voll labere beim Shooting, dann kann die Stimmung auch wieder kippen“, weiss Baronchelli. Am Ende müssten Fotograf und Fotografierter aushandeln, wie sie mit einander die bestmögliche Zeit verbringen.
Seit März arbeitet er an dem Projekt im Sommeratelier. Er hat tausende Motive geschossen. Die grösste Herausforderung kam für ihn deshalb erst nach der Fotografie - die Auswahl der Arbeiten, die er in der Ausstellung zu sehen sein sollen. „Das fällt mir nicht leicht, aber am Ende ist es noch immer irgendwie gut ausgegangen“, sagt der Fotograf. Ab Samstag kann sich jede:r selbst davon in der Remise Weinfelden überzeugen.
Das Sommeratelier in der Remise Weinfelden
Das Sommeratelier: Seit 1992 wird die Remise des Hauses zum Komitee für kulturelle Zwecke genutzt. Die Liste der bisherigen Stipendiaten liest sich wie das Who is who des Thurgauer Kulturlebens: Steffenschöni, Rahel Müller, Rachel Lumsden, Hans Gysi, Othmar Eder, Renate Flury, Werner Widmer, Ernst Thoma und viele andere. Die Kulturkommission der Gemeinde Weinfelden vergibt jährlich dieses Stipendium. Kuratiert wird das Sommeratelier von Brigitt Näpflin Dahinden und Ivo Dahinden. Künstlerinnen und Künstler sollen hier die Gelegenheit haben, ein längerfristig angelegtes Kunstprojekt zu realisieren. Dafür bekommen sie einen finanziellen Sockelbetrag von 6000 Franken (wenn zwei oder mehr Künstler:innen beteiligt sind, erhöht sich der Betrag auf 8000 Franken) und alle drei Etagen der Remise, auf denen sie sich austoben können. Interessierte Künstler:innen können sich per Formular bewerben. Mehr zum Sommeratelier gibt es hier.
Vernissage: Mario Baronchellis Ausstellung «RAUM. LICHT. ZEIT. MENSCH.» eröffnet am Samstag, 26. August, 17 Uhr.
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