von Stefan Böker, 21.07.2020
Zwischen Horror und Erhabenheit
Was passiert mit Räumen, die für Menschen entworfen wurden, wenn die Menschen fehlen? Mit seinem Projekt „Abgesagt“ hat der Fotograf Mario Baronchelli die Folgen der Corona-Pandemie eindrücklich dokumentiert.
Mit seiner Kamera ausgerüstet erkundete Mario Baronchelli die ausgestorbenen Räume des Grande Casinos in St. Gallen. Vorbei an sonst voll besetzten Spieltischen, an verlorenen Ledergarnituren und an verspiegelten Wänden ohne Reflexionen. Wie eine Szene aus „The Shining“: Der weiche Teppich in den Gängen dämpfte das Geräusch seiner Schritte und des ihn begleitenden Sicherheitsmitarbeiters, der sich dazu dezent im Hintergrund hielt; Schnapsflaschen auf den Tresen erinnerten an Abende der Vor-Corona-Zeit, und auf dem Marmorboden vor der Bar lag zurückgelassenes Putzzeug. „Doch Casino-Lärm – zurückhaltende Musik, das Stimmengewirr der Menschen, das Klackern der Automaten – war dennoch klar und deutlich zu hören“, erzählt der Fotograf. „Über die Lautsprecher! Das gehört anscheinend dazu. Richtig creepy war das.“
Wenn im verwaisten Casino nur noch eine einsame Leiter zwischen Spielautomaten lehnt oder im Kinderparadies Nebelschwaden ums verlassene Karussell wehen, wird’s gespenstisch. Diesen Geist der Corona-Krise hat Baronchelli in stimmungsvollen Bildern konserviert – ein Gänsehauterlebnis für Betrachter wie Fotografen.
Der Fotograf besuchte 31 Orte in 8 Wochen
Insgesamt besuchte er für sein Projekt „Abgesagt“ 31 Orte in der Ostschweiz: das Probenlokal eines Dorfmusikvereins, ein Kleinstadttheater, eine Hochschule. Orte, die normalerweise öffentlich zugänglich sind und kulturell bespielt werden. Orte, von denen jeder schon gehört hat, aber auch unbekannte Flecken, die auch er zum ersten Mal sah, etwa die Spielhalle eines Pétanque-Clubs. Bei vielen der Bilder hat man hat das Gefühl, gleich kommen Zombies ums Eck.
„Abgesagt“ stellt die erste Arbeit nach Beendigung seines Studiums dar. Architektur ist hingegen ein Bereich, der Mario Baronchelli von Beginn seiner Karriere an interessierte. Sein erster grosser Auftrag war die Dokumentation der neuen Zimmer nach dem Umbau des St. Galler Hotels Dom 2010.
Erstaunlich, wie anders die Motive ohne Menschen wirken
Auch Menschen fotografiert er gerne. Er hat schon Autoschrauber und Rockabillies porträtiert. Oder war mit den Alternative-Rockern Gran Noir auf Tour. Grossartige, interessante Bilder sind so entstanden.
Im aktuellen Projekt hingegen ging er einer neuen Fragestellung auf den Grund: Was passiert mit Räumen, die für Menschen entworfen wurden, wenn die Menschen fehlen? Um die bauliche Qualität ging es ihm deshalb nicht in erster Linie. Massgeblich war der praktische Zweck der Bauten und ihre fremde Wirkung auf den Betrachter der Bilder. Sie changiert zwischen Grusel und Erhabenheit.
Architektur, die begeistert
Richtig ehrfurchtsvoll wirken seine Aufnahmen der Tonhalle im St. Galler Museumsquartier. Und so habe er sich auch gefühlt: „Die imposante, geschichtsträchtige Architektur hat mich begeistert“, erzählt er. „Und dann steht da ein einzelner Stuhl auf der Bühne. Hier sitzen manchmal Orchestermitglieder und proben allein für sich. Das hätte ich wahnsinnig gern gehört.“
Der Fotograf nutzte das einzigartige Setting prompt für ein Selbstporträt an eben jenem Platz. Über die wunderschöne Atmosphäre in der Lokremise mit ihren Oberlichtern, Industriefenstern und riesigen Räume sagt er: „Hier willst du eigentlich wohnen, so schön ist das.“ Er reagiere stark auf Räume, und ohne Menschen habe er sich ganz auf diese einlassen können.
Die Bilder aus der Bibliothek der Hochschule für angewandte Wissenschaften in St. Gallen, aus dem Event-Zentrum Pentorama in Amriswil oder dem Konzertlokal Palace sind ausdrucksstarke Architekturfotografie.
Momente, die dem Publikum sonst verborgen bleiben
Daneben gab es auch kuriose Momente: Etwa im verlassenen St. Galler Volksbad. Das Wasser war aus dem Becken gelassen worden und Plättlilegger hatten mit Post-its beschädigte Kacheln markiert. „So etwas bekommst du normalerweise nie zu Gesicht.“
Besonders sei auch die Freude der Personen vor Ort gewesen, die ihm die Türen aufmachten oder ihn herumführten, ausgehungert nach menschlichem Kontakt infolge mehrerer Wochen Isolation, so Baronchelli. Oder der Moment, als er seinen Wagen als einziger in der Tiefgarage der Hochschule parkte und die Lichter nach und nach ausgingen, bis zu seinem Bereich.
„Diese Orte in diesem verlassenen Zustand erforschen zu dürfen, war eine einmalige Sache“, zeigt sich der Fotograf froh über das Erlebte. „Das wird so bald nicht wieder möglich sein. Oder besser gesagt: Ich hoffe, dass sich diese Zustände nicht wiederholen.“
Der Fotograf und das Projekt
Mario Baronchelli (45) kommt aus Güttingen und arbeitet in St. Gallen. Der Autodidakt programmierte früher Webseiten. Dann begann er, für seine Kunden zu fotografieren, seit rund 15 Jahren professionell. Am liebsten lichtet er "Räume, Menschen, Orte und Rock'n'Roll" ab; Bilder, die Geschichten erzählen sollen. Eine formelle Ausbildung holte Baronchelli später nach: Den Studiengang Fotografie an der Luzerner Journalistenschule MAZ schloss er in diesem Jahr erfolgreich ab. In Güttingen bietet er ausserdem Fotografie-Kurse für Einsteiger an. Im Internet: www.mariobaronchelli.ch
Das Projekt: Für „Abgesagt – Räume ohne Anlass“ war Mario Baronchelli acht Wochen lang in den Kantonen St. Gallen, Thurgau und beiden Appenzell unterwegs. 31 Orte durfte er fotografieren. Obwohl er meist herzlich empfangen wurde, reagierten nicht alle Angefragten positiv auf seine Projekt. Meist jedoch durfte er sich mehr oder weniger allein umschauen – ein auch für den Fotografen einmaliges Erlebnis. Weitere Aufnahmen der Serie gibt es auf der Website des Projektes: https://abgesagt.ch
Von Stefan Böker
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