von János Stefan Buchwardt, 20.03.2020
Im Verbund mit Dietrich
Das Kunstmuseum Thurgau ist derzeit zwar geschlossen. Aber wir halten die Kunst darin lebendig. Teil 2 unserer neuen Serie «Dietrich und wir» widmet sich dem Verhältnis von Richard Tisserand und Adolf Dietrich.
Die Flecken und Stätten, die Adolf Dietrich für sein Werk vor Augen hatte, mag man als Thurgauerin und Thurgauer inzwischen zur Genüge kennen. Wer hinter dem auf den ersten Blick Gefälligen und Lieblichen nicht mehr als eine nicht besonders spektakuläre Landschaft samt altbackenen Sujets entdecken will oder kann, mag sich über die anhaltende und steigende Wertschätzung des Künstlers wundern.
Wo ein malender Zeitgenosse, ein etablierter Künstler wie der 1948 in Eschenz geborene und aktuell dort wohnhafte Richard Tisserand nun die gleichen Standorte wie Dietrich einnimmt, quasi aus dem Blickwinkel des berühmten Berlingers auf die Wirklichkeit schaut und dort seine Plexiglasbilder malt, stellt sich (dem Unbedarften) die berechtigte Frage, von welchem Teufel er denn da geritten werde.
Artistische Attraktion
Wenn Markus Landert, seit fast drei Jahrzehnten Direktor des Kunstmuseums Thurgau, dem Werk Dietrichs sachverständig die vordergründige Eigentümlichkeit von Momentaufnahmen zuspricht, die sich bei genauem Hinschauen als versierte Mehrfokussierung auf die Wirklichkeit entpuppt, lotet er den artistischen Reiz und künstlerischen Stellenwert des Wohl- und Altvertrauten beschreibend aus.
Trotz seines Aussenseitercharakters sei Dietrich schon von seinen gleichaltrigen und jüngeren Kollegen erkannt worden. Von Anfang an habe man ihn geschätzt, war er doch Mitglied in der internationalen Künstlervereinigung «Der Kreis» und wurde früh eingeladen, der Thurgauischen Künstlergruppe beizutreten. Die Position, die jetzt ein Tisserand in Relation zum beschlagenen Untersee-Maler einnehme, sei schlicht schön, spannend und aufschlussreich zugleich.
Technik der Hinterglasmalerei
Tisserand stellt seine Scheibe auf, en plein air, sieht hindurch und beginnt, das, was er erblickt, gleichsam darauf zu malen. Die Striche, die er setzt, sind opak. Mit jedem dieser undurchsichtigen, auf das Glas gebrachten Farbtupfer verschwindet seine Vorlage. Die Inspiration für die Bilder, die, aus seiner Werkstatt stammend, nun in der Kartause mit Dietrich kombiniert werden, schöpft sich aus dessen Bilderwelt und einem ähnlichen Duktus. Nämlich mit Naivität in eine Landschaft hereinzugehen und sie mit den eigenen künstlerischen Mitteln zu reflektieren.
Ein Prozess des Nachspürens wird in Gang gesetzt. Landert erläutert: «Bei solchen Spiegelungen der Wirklichkeit lässt sich das, was als gemaltes und hier spiegelverkehrtes Bild nachher auf uns zukommt, nicht mehr logisch mit der Vorstellung der abgemalten Wirklichkeit verbinden.» Jedes in solcher Technik entworfene Bild sei immer auch eines über das Bildermachen an sich.
Eigenheiten des Reproduzierten
Das Gemalte tritt bei der Hinterglastechnik also punktweise an die Stelle des Gesehenen und erscheint obendrein seitenverkehrt. Landert spricht vom Statuieren eines Manifests. Ein Abbild der Welt, das Tisserand auf diese Weise mache, sei im Grunde ein bedingungsloses Überführen auf etwas Allgemeineres. «Wenn wir davorstehen», führt der Museumsleiter präzise aus, «entführt uns das in eine Unmöglichkeit, uns etwas über Wirklichkeit auszusagen. Respektive: Die Bilder, die so tun, als wenn sie ein Abbild von einem bestimmten Ort wären, demonstrieren uns, dass es Wirklichkeit gar nicht gibt.»
Seinerseits schmunzelnd und schlechterdings lapidar fügt Tisserand, der in gleicher Weise auch mit Claude Monet verfährt, an: «Dass das Bild verkehrt ist, ist mir egal. Ist es nicht völlig gleich, wo etwa bei einem der berühmten Seerosenbilder links und rechts ist?»
Schütteln und Rütteln
Eine anfänglich mechanische Wiedergabe der Wirklichkeit, so erfährt man explizit auch im Ausstellungsraum, erweise sich schliesslich als vielfach gebrochener Produktions- und Wahrnehmungsprozess. In den Hinterglasbildern manifestiere sich modellhaft die Künstlichkeit aller Bilder. Und in Tisserands Nachbarschaft liessen sich auch Dietrichs bildnerische Zugriffe auf die Landschaft als analytische Aktionen erfahren. Wie irritierend und aufschlussreich in einem, wenn wir uns vor Augen führen (lassen), dass jedes Bild der Welt, das wir machen, eine absolute Abstraktion sei.
Was sich in Ittingen konstelliert und gedanklich reich aufschlüsseln lässt, ist also viel mehr als wieder einmal «unseren» Dietrich hochleben lassen. Wo der See, die Reben und das natürliche Gelände in ein Auflösen jeder Bildgewissheit getaucht werden, tritt eine der Hauptaufgaben zeitgenössischer Kunst auf den Plan: immer wieder am Hochstamm vermeintlich verbindlicher Beziehungen zur Wirklichkeit kräftig rütteln.
Über Dekonstruktion zur Selbstwahrnehmung
Bilder dienen heute dazu nachzuweisen, dass es Realität gar nicht gibt? Über solche Bewusstseinsspiele(reien) erkennen, dass wir Vorstellungen und Konstruktionen dennoch dringend brauchen, damit wir uns organisieren und orientieren können und überhaupt sind? Landert greift ins Füllhorn seines Erfahrungsschatzes, sucht nach Durchdachtheit und Balance, doziert zugetan und jongliert scharfsinnig mit Kunsttheorie und -praxis.
Die ausführenden Künstler sind da verwachsener, vielleicht «naiver». Im alteingesessenen Wechselspiel zwischen Intuition und Analyse liefern sie ihre ergreifenden, bisweilen auch befremdenden Vorlagen für wertvollen Erkenntnisgewinn. Tisserands (grosse) Hinterglasbilder aus Dietrichs oder Monets Perspektive, auch die vom Rheinfall oder Alpstein offenbaren sich als lustvoll angeeignete Motive, die von einer breit angelegten Landschaftsrecherche zeugen.
Mysterium Kunst
Die abschliessende Frage, worin denn Wert und die Magie eines Adolf Dietrich lägen, beantwortet Tisserand mit den Begriffen Dauerhaftigkeit und Zeitlosigkeit: «Bei ihm ist genau das drin, was einen guten Künstler eben auszeichnet. Abschätzig mag man von Küchentischmalerei und Pingeligkeit sprechen. Aber Dietrich hat sich Zeit genommen, hat mit seinen Bildern gelebt und sie zu einem Eigenleben geführt.»
Wenn die Hand dem künstlerischen Wollen bisweilen voraus sei, das Malen im Arbeitsrausch Reflexe auslöse, ist man wohl auf gutem Wege zu dieser überwältigenden Unerklärlichkeit des Meisterwerks. Es hätte einmal eine spassige Arbeit aus seiner Hand gegeben, die er, angestossen von einem Porträt Dietrichs in gestreiftem Oberhemd, angefertigt habe. In dieser Zeichnung flöge das Hemd offenen Armes über den Untersee, über Berlingen. Belustigt und beschwörend hält Tisserand fest: «Diesen Geist, den bringst du nie mehr los.»
Die Serie «Dietrich und wir»
Als die Serie startete war die Welt noch eine andere und das Coronavirus ein chinesisches Problem. Das hat sich längst geändert. Auch in der Schweiz liegt das öffentliche Leben darnieder, auch die Museen sind geschlossen, um der Epidemie irgendwie Herr zu werden. Unsere Serie zur Ausstellung «Konstellation 11 – Dietrich & Co.» im Kunstmuseum Thurgau wollen wir dennoch fortsetzen.
Weil die Texte wertvoll sind und wir so die Kunst in schwierigen Zeiten ein wenig lebendig halten können. Teil 1 der Serie, den Text über das Verhältnis zwischen Judit Villiger und Adolf Dietrich, finden Sie hier.
Für dieses Mal scharfgestellt auf Richard Tisserand, in Folge und abschliessend auf Christoph Rütimann – neben Judit Villiger, der dritten im Bunde. Allesamt exemplarische Künstlerpersönlichkeiten, die sich in direkten Bezug zu Adolf Dietrich stellen. Zu diesem lange ungerechtfertigt belächelten Berlinger, dessen mehr und mehr begreiflicher Einfluss so aufs Beste nachvollzogen werden kann.
Details zur Ausstellung: «Konstellation 11 – Dietrich & Co.» gibt es auf der Internetseite des Museums.
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