von Inka Grabowsky, 14.07.2023
Geschundene Seelen
Spuren von Gewalt: Das See-Burgtheater zeigt mit seiner Version von Molnars «Liliom» die zerstörerische Kraft toxischer Männlichkeit. Und Frauen, die sich davon nicht befreien können. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
«Wir liefern keine Antworten» warnt Astrid Keller, die sich als Regisseurin das Stück «Liliom» ausbedungen hatte, vorab beim Premierenempfang. «Sie werden mit vielen Fragen das Theater verlassen. Gibt es die alles verzeihende Liebe? Gibt es im Leben mehr als eine Chance? Und wo fängt Gewalt an?»
Doch so ganz orientierungslos liefen die Zuschauer nach zwei kurzweiligen und berührenden Stunden nicht aus dem Seeburgpark. Dafür sorgten die Schauspieler, welche die sparsamen Texte mit Körpersprache so ergänzen, dass eben doch eine Interpretationshilfe für das Publikum entsteht.
Die Heldinnen nehmen Schläge in Kauf
Die Figur der Julie beispielsweise könnte man als passives Opfer betrachten. Sie verliebt sich in Liliom, wird von ihm geschlagen, wird von ihm schwanger, wird von ihm mittellos zurückgelassen. Doch Schauspielerin Ann Mayer gibt sie als selbstbewusste Frau. Sie weiss, worauf sie sich einlässt. Trotzig verzichtet sie auf jede Form der Hilfe und bewältigt ihr Leben allein.
Damit ist sie besser dran als das bürgerliche Paar aus Marie und Wolf (Hannah Joe Huberty und Tomasz Robak), das Molnár der Beziehung von Julie und Lilion gegenüberstellt. Die Beiden sind zwar wirtschaftlich und in der Reproduktion erfolgreich, streiten aber so viel, dass sie beginnen, sich wieder zu siezen.
Julies Nebenbuhlerin Frau Muskat wird von Sarah Kattih ebenfalls als selbstsichere, sogar arrogante Frau gespielt. Trotz des Machtgefälles – sie ist die Arbeitgeberin von Liliom – wehrt auch sie sich nicht gegen seine Schläge. Bei beiden Frauen ist die Liebe stärker als die Selbstachtung.
Der schwache Mann weiss sich nur durch Schläge zu helfen
Hauptdarsteller André Rohde zeigt uns einen charmanten Liliom, in den sich Frauen leicht verlieben können, weil er eben all das verkörpert, was Männer dem Klischee nach ausmacht. Er ist verführerisch, in jedem Sinn schlagfertig und beschützend.
Als Koberer auf dem Jahrmarktskarussell ist er perfekt. Bei seinen Gesangseinlagen gibt er einen glaubwürdigen Rockstar ab. Auf der Bühne im Seeburgpark werden die Zuschauer jedoch Zeugen davon, dass die Figur an ihrem eigenen Anspruch scheitert, genauso auch führungsstark, fürsorglich oder erfolgreich zu sein. Denn unglücklicherweise passt es nicht zu seinem Männlichkeitsideal, Fehler einzugestehen und sich damit zu ändern.
Nicht einmal 17 Jahre im rosafarbenen Fegefeuer können seine Seele reinigen. Er kann eben nicht aus seiner Haut, obwohl er - wenn er wütend ist - schnell aus der Haut fährt.
Sogar eine Ursache dafür wird angedeutet. Liliom ist selbst ohne Vater aufgewachsen. Vor dem himmlischen Tribunal muss er tatsächlich einmal seinen Familiennamen Sawotski nennen. «Nach meiner Mutter» fügt er hinzu. Liliom ist also selbst ohne Vater, ohne funktionierendes männliches Rollenvorbild aufgewachsen.
Aufmerksames Publikum gefordert
Man muss genau hinhören und hinschauen beim Stück im Seeburgpark. «Die Katastrophen lauern in den Nebensätzen» sagte Tomasz Robak dazu bei der Medeinkonferenz vor der Premiere. Recht hat er! Das Bühnenbild von Damian Hitz hilft perfekt bei der Konzentration. Lediglich ein Rahmen umgibt die Drehscheibe, auf der sich die Figuren im Kreis bewegen. Licht und Ton von Marco Scandola unterstützen, wo es nötig ist. Mehr braucht es nicht.
Hitz’ Version des himmlischen Gerichts mit wolkigen Hussen über Stühlen und Tisch sowie Sternen aus Glühlampen erntet allerdings ebenso Lacher und Szenenapplaus wie die Kostüme, die Beate Fassnacht und Klara Steiger den «Polizei-Engeln» Jonas Fässler und Georg Melich verpasst haben.
Detektive wie aus einem TV-Krimi
Als irdische Detektive sehen sie aus, wie man sich als geübter TV-Krimi-Schauer eben Kommissare vorstellt. Aber als Engel sind sie nahezu niedlich – und sie sind auch netter zum Delinquenten als ihre Alter-Egos auf der Erde.
Philipp Kuhn, der Leiter des Kulturamts des Kantons, bescheinigte dem See-Burgtheater schon vor der Premiere, eine Institution zu sein, die niederschwellig und doch gehaltvoll jeden Sommer bereichere. «Seit 1990 konnte kein schlechtes Wetter, nicht einmal eine Pandemie das See-Burgtheater stoppen. Es ist eine grosse Konstante in der Thurgauer Kulturlandschaft und verbindet Weltliteratur und Volkstheater.» Diesen Vorschusslorbeeren ist das Ensemble mit «Liliom» gerecht geworden.
Die weiteren Aufführungen
Liliom – Eine Vorstadtlegende
Weitere Aufführungen (jeweils 20.30 Uhr)
Fr 14.7./ Sa 15.7./ Di 18.7. / Mi 19.7. / Do 20.7. / Fr 21.7. / Sa 22.7.
Di 25.7. / Mi 26.7. / Do 27.7. / Fr 28.7. / Sa 29.7.
Mi 2.8. / Do 3.8. / Fr 4.8. / Sa 5.8.
Di 8.8. / Mi 9.8.
Die Zuschauertribüne ist überdacht. Tickets (von 48 bis 54 Franken) gibt es hier.
Von Inka Grabowsky
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