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von Judith Schuck, 06.10.2023

Genähte Erinnerungen

Genähte Erinnerungen
Nika Timashkova vor ihrer ersten Einzelausstellung im Apollo Kreuzlingen. | © Judith Schuck

Fenster, die Einblicke in die Kindheit geben. Zerstörung, aus der Neues entsteht. Die ukrainisch-schweizerische Künstlerin Nika Timaschkova untersucht mit ihren Werken im Apollo Kreuzlingen das Trennende und Verbindende von Kulturen. (Lesezeit: ca. 4 Min.)

Grenzen zwischen Nationen, Traum und Wirklichkeit, verschiedenen Medien, aber auch zum Körper. Wie verhalten sich Gegebenheiten unter unterschiedlichen Bedingungen oder Blickwinkeln? Nika Timashkova lotet aus, sie recherchiert und probiert. Die 33-jährige Künstlerin ist in der Ukraine geboren, in Saporischschja, ein Ort, der heute nach Zerstörung und Schrecken klingt; für die meisten vor Beginn des Krieges sicher aber völlig unbekannt war.

Mit zehn Jahren kam sie in die Schweiz, lebt und arbeitet in Basel, die Schweizer Stadt mit gleich zwei Landesgrenzen, der französischen und der deutschen. „Moving Bodies – Edelweiss and Sunflowers“ im Apollo in Kreuzlingen ist Nika Timashkovas erste Einzelausstellung. Ursprünglich hatte sie sich auf die Kunstnacht Kreuzlingen-Konstanz beworben, doch das Kurator:innenteam im noch neuen Kulturhaus in der Grenzstadt, fand, sie solle in einem grösseren Kontext gezeigt werden.

Vor ihrem Kunststudium in Arnheim, Holland, studierte Nika Timashkova französische Literatur und Osteuropäische Kulturen in Basel. Der Einfluss der Linguistik ist in ihren Werken nicht zu übersehen. Zum Beispiel, wenn sie mit Repräsentationsformen und Bedeutungen experimentiert, mit Beziehungen zwischen, Objekt, Repräsentation und Bezeichnung. Ihr Arbeitsmaterial ist Stoff. Eine Zeitlang spielte sie mit dem Gedanken, in Richtung Modedesign zu gehen. „Kleidung hat mich schon immer fasziniert, die Nähe der Kleidung zum Körper, Fashion, Verkleiden“, sagt sie.

 

Phrenologie nach Nika Timashkova. Bild: Judith Schuck

Ins andere Medium übersetzt

Wer sich dem ehemaligen Kino nähert, wird in die Ausstellung durch drei Figuren eingeführt, die als Stoffbanner aussen am Gebäude aufgehängt sind. Zwei an der Stirnseite, eines zur Nordseite. Sie verkörpern drei Bilder: Traum, Land und Zukunft. Diese drei Figuren und deren Accessoires tauchen in unterschiedlichen Kontexten in der Ausstellung wieder auf.

Mit den Kostümen inszenierte Timashkova eine Performance fürs Schauspielhaus Zürich, auf deren Grundlage sie für die Kreuzlinger Ausstellung gemeinsam mit dem künstlerisch breit aufgestellten Basler Tobija Stuker das Video „Good Byes. Bad Byes“ entwickelte. Eine Übersetzung der Performance, die Performance eine Übersetzung der Kostüme und Attribute; eigentlich hatte Nika Timashkova mal Übersetzerin werden wollen. Doch das Visuelle packte sie zu sehr. Jetzt übersetzt sie von einem Medium ins andere.

Traum, Tracht, Zukunft

Doch zunächst zur Bedeutung der Figuren: Das Video beginnt mit dem Traum, eine spielerische Atmosphäre. Im Traum kommt es zu Verschiebungen, Lücken und Verdichtungen. Land ist repräsentiert durch eine Tracht mit langen blauen und gelben Bändeln: „Die Tracht ist meine Interpretation der ukrainischen Tracht“, sagt die Künstlerin, die sich an ihre Kindheit in der Ukraine zurückerinnert.

Die dritte Figur ist die Zukunft. Sie befindet sich an der Nordwand des Hauses mit Blick zur Grenze. Sie hat zwei Gesichter, in Anlehnung an den Janus-Kopf, „der in die Vergangeheit und in die Zukunft blickt. Zu seinen Füssen liegen Attribute von anderen Figuren. Alles ist kaputt, aber es entsteht etwas Neues.“

 

Schuhabstreifer oder Kunstwerk. Bild: Judith Schuck

 

Vom Kostüm zur Bewegung

„Good-Byes, Bad-Byes“ ist eine Auseinandersetzung mit dem Krieg, der derzeit in ihrem Geburtsland wütet. Die Träume, die sie von der Ukraine hat, die Erinnerungen an das Land und Überlegungen darüber, was war und sein könnte. „Ich mache erst die Kostüme, meist aus einer groben Idee heraus. Dann überlege ich mir die Geschichte dahinter und wie ich Bewegung in die Kostüme bringen, das Performative verstärken kann.“

Eine Installation im Untergeschoss nimmt das Thema Erinnerungen an die Ukraine auf: Zwei textile Fenster aus verwaschenen Regenbogenfarben. Am Eingang zum Ausstellungsraum ist „Door into Childhood“ auf eine alte Spitzengardine mit Goldrand genäht – ebenfalls in dicken bunten Pastelllettern.

„So habe ich die Fenster am Haus meiner Grossmutter in Erinnerung behalten“, sagt die Künstlerin, die momentan nicht zurück kann in das Land ihrer Kindheit. In den Dimensionen und Relationen stimmen die Fenster nicht mit der Realität überein, sie sind expressionistisch schief und verzogen, wie eben in der Welt der Erinnerung und Fantasie, ein bisschen entrückt.

Kunst oder Gebrauchsgegenstand

Timashkova arbeitet vor allem mit „Trash“, Fundstücken, Second-Hand-Kleidung und -Stoffen, da ein schonender Umgang mit Ressourcen für sie ein zentrales Anliegen ist. Alle Kostüme, Bilder, Installationen sind handgenäht. Nicht im Sinne einer Handwerkskunst, sondern oft mit groben Stichen, die auf die Herstellungsart verweisen, ein Unikat, handmade, keine industrielle Serienfertigung, kein kapitalistisches Ausbeutungsprodukt.

Sie wirft aber auch die Frage auf: „Was ist Kunst? Wo ist die Grenze zwischen Kleidungsstück und Kunstwerk? Ist ein überdimensioniertes Stoffauge Kunst oder Dekoration? Wann wird ein Objekt zum Kunstwerk? Ist die Fotografie von Kunstwerken auf einem Schuhabstreifer Kunst oder nur ein Abbild davon? So wie René Magritte in „Der Verrat der Bilder“ zu bedenken gab: „Ceci n´est pas une pipe.“ Was ist die Realität eines Objekts? Und konkret: Darf ich auf den Schuhabstreifer drauftreten?

 

Drei Trachten, ein Muster. Bild: Judith Schuck

Ein Plüschmund als Erinnerung an die Coronajahre

Wer das Foyer betritt, sieht als erstes einen überdimensionalen knallroten Plüschmund, der von der Decke baumelt. Er entstand während der Coronazeit. „Der Mund steht für Sinnlichkeit, bekam aber in der Pandemie eine andere Bedeutung“, erklärt sie an der Vernissage am 22. September.

Unsichtbar unter einer Maske oder etwas Bedrohliches, potenziell Ansteckendes. Rot wie die Liebe, rot wie die Gefahr. Auch eine textile Zunge, die auf einem Heizkörper ruht, wie eine Schlange in der Sonne, ist bespickt mit Nieten. Nicht die scharfe, eher die stachlige Zunge. Sprachwitz und Symbolik tauchen bei Timashkova immer wieder auf.

Spiel mit Sprache

Auch indem sie allbekannte Slogans umformt, verfremdet, auf Stoffbannern, die an die Plakate von Protestbewegungen erinnern: „We Have To Talk Care“ oder „Play For Your Sins“. Nicht nur das Sprachstudium, auch ihr Interesse für Kulturen wirkt in ihr Werk ein. „Edelweiss and Sunflowers“, die Nationalblumen für Schweiz und die Ukraine, zeugen von ihrer Beschäftigung mit diesen beiden Kulturen, die sie prägen. Die Sonnenblume stehe für die Ukraine – die Nationalflagge könne als der blaue Himmel gelesen werden, vor dem die leuchtend gelben Sonnenblumen blühen, so Timashkova.

Durch die Beschäftigung mit Trachten in ihrem Werk „Kombi_Nations“, wo sie eine Schweizer, Ukrainische und Usbekische Tracht nach empfunden hat, kam sie zu einer tieferen Recherche zum Paisleymuster, das das sogenannte „Glarner Tüechli“ schmückt. „Die Firma Blumer aus dem Kanton Glarus brachte das Muster im 19. Jahrhundert aus Indonesien mit und liess es patentieren“, erzählt Timashkova. Ebendieses Muster findet sich auf osteuropäischen Stoffen, hier als Gurkenmuster bezeichnet. Aber auch überall sonst findet sich das Muster wieder, ob auf Bandanas oder englischen Liberty-Stoffen.

Imitation oder Original?

Für die Ausstellung hat sich Nika Timaschkova aus verschiedenen Ländern rote Halstücher zusenden lassen – im Grunde alles Imitationen, ob nun vom Glarner Tüechli oder das Glarner Tüechli selbst die Imitation ist, lässt sich schwer nachvollziehen. Sie interessierte hier die Bewegung des Musters, wo gibt es kulturelle Schnittstellen? Wie beeinflussen sich die verschiedenen Kulturen?

Wahrnehmung, Körperlichkeit, Bewegung, Intermedialität bilden die Schwerpunkte der Ausstellung, die im Rahmen des Artfoyers im Apollo Kreuzlingen noch bis zum 15. Oktober zu sehen ist, und die sehr vielfältig und humorvoll an verschiedene gesellschaftsrelevante Themen herangeht.

 

Auseinandersetzung mit Zellorganismen. Bild: Judith Schuck

 

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