von Andrin Uetz, 18.03.2019
Freilaufende Klänge
70 Schüler, 10 Künstler: Am Wochenende wurde die Komturei Tobel zum Tontempel. Begleiten Sie unseren Autor Andrin Uetz auf seiner Klangreise.
“Tobel-Affeltrangen” sagt die Thurbo-Stimme über die Lautsprecher des Zugs. Ich steige aus, der kühle Wind, der seit Tagen über Europa zieht, drescht mir ins Gesicht. Wahrscheinlich hört man jetzt nur ein Rauschen auf der Aufnahme, denke ich, und setze mir dennoch die Mikrophone ins Ohr. Der Weg zur Komturei führt zuerst an einer Hauptstrasse, dann dem Hartenauerbach entlang. “Music of Cages” steht da auf einem Plakat bei den Parkplätzen. “Öffentliche begehbare Klanginstallation mit Musik von John Cage (1912–1992) und eigenen Kompositionen aller Beteiligten.” Dazu das Konterfei des Komponisten mit neonröhrenanartigen Linien gezeichnet, pink, gelb, violett, hellblau.
Im Garten zwitschern die Vögel, die Kirchenglocken der Kapelle auf dem Hügel vermischen sich mit dem rhythmischen Klopfen, welches aus den farbig beleuchteten Fenstern (Lichtinstallation: Markus Brunn, Lukas Meyer, Jochen Pasternacki) in den Hinterhof dringt. Die ehemalige Johanniter-Komturei, um 1811 in ein Gefängnis umfunktioniert und bis 1973 noch als solches in Betrieb, wirkt in der düsteren Abendstimmung romantisch und geheimnisvoll. Ich werde neugierig und öffne die Holztüre zur Komtureibeiz. Ein sehr zuvorkommender Herr, wie sich herausstellt Walter Strasser, der Schulleiter der Sek Müllheim, händigt mir eine Broschüre aus und kommt dabei gleich ins Schwärmen: “Ich hatte ja anfangs meine Zweifel, aber als bei den Proben eines Stücks von Julius Eastman für vier Klaviere und acht Hände alle Schüler und Schülerinnen ganz andächtig lauschten im Schulhauskorridor, da wusste ich; das kommt gut!”
Mithören: Begleiten Sie unseren Autor auf seinem Weg durch die Klanginstallation
Die Komposition “Apartment House 1776” von John Cage inspiriert Simone Keller und Philip Bartels des Kollektivs ox&öl dazu, in der Komturei eine ebenso vielseitige Performance und Installation zu gestalten. 1976 zum zweihundertjährigen Jubiläum der USA von Cage als Werk konzipiert, welches mit vier Vokalisten/Innen (protestantisch, sephardisch, indianisch, afroamerikanisch) das friedliche Nebeneinander der Konfessionen feiern sollte, indem die jeweiligen traditionellen Gesänge voneinander unabhängig in verschiedenen Räumen eines Mehrfamilienhauses gesungen werden, ist es ein Stück, welches ganz bewusst auf zufällige Harmonien und Dissonanzen, auf Unmittelbarkeit setzt. Die Zuhörenden sind eingeladen sich frei im Gebäude zu bewegen. Somit gestalten sie sich ihr eigenes Hörerlebnis, einen idiosynkratischen Remix sozusagen.
Das darin liegende politische Statement für Pluralität, Toleranz und ein Leben mit- und nebeneinander, wird auch in dieser südthurgauer Version des Werks gross geschrieben. Unter Mithilfe der Musiker und Musikerinnen Lara Stanić, Aleksander Gabrys, Rea Kost, Niklaus Kost, Michael Flury und Moritz Müllenbach erarbeiteten ox&öl mit rund 70 Schüler und Schülerinnen ein ebenso vielseitiges wie eindrückliches Programm. Während jeweils drei Stunden wurde am Freitagabend und am Samstagnachmittag die Komturei zu einer Art irrwitzigen Kombination aus Geisterhaus, Kunstinstallation und Hausbesetzer-Rave.
Trap Bässe, Blasmusik, elektronische Beats, klirrendes Küchengeschirr
Sie sind nun, liebe Leserin, lieber Leser, eingeladen, mit mir durch die Räume der Komturei zu schreiten. Dabei werden Sie alle möglichen Geräusche hören, mal ein Quodlibet aus vier verschiedenen Gesangsmelodien, mal furchterregende Schreie, Rückkoppelungen von Megaphonen, akustische Gitarren, auf denen nebeneinander verschiedene Rhythmen gezupft werden, Ketten, welche rasselnd durch das Stiegenhaus gezogen, Trommeln und Flöten, mal wie eine Guggenmusik, dann doch wieder im Stil der freien Improvisation, ein iPod-Orchester im Gewölbekeller, knatternde Saiten über den Boden einer Gefängniszelle gespannt, ein Mitschnitt eines Vortrags von John Cage ab Tonband, orchestrierte Stille (“Freeze”) die sich in ein Crescendo aus gefühlten hundert Stimmen lauten Geschnatters verwandelt. Sie hören das Klicken meiner Kamera, Gesprächsfetzen, klatschendes Publikum, einige Lacher und Laute des Erstaunens.
Mal setzen Sie sich auf einen Beichtstuhl, nur wo früher die Patres sassen, sitzen jetzt Schülerinnen und singen auf japanisch, englisch und deutsch Popsongs. Mal stehen sie im Weg, wenn vierzig Schüler und Schülerinnen an ihnen vorbei eilen, um zur nächsten Aktion zu gelangen, mal drängen sie sich mit anderen Hörenden in einen Zimmer, welches gefüllte ist mit einer stürmischen Soundscape von vier Klavieren. Trap Bässe mischen sich mit Blasmusik, elektronische Beats mit dem Klirren von Küchengeschirr und Sparschäler, “Lecker Lecker Lecker”. Achten Sie auf die wechselnde Raumakustik, das Knacken der alten Holzstiegen, die Geräusche des Publikums. Wo beginnt die Musik? Was gehört zur Komposition? Was heisst es überhaupt Musik zu hören? Es sind diese ganz basalen Fragen, welche auch mit der bekanntesten von John Cages Kompositionen, seinen 4’33’’, in denen der Pianist oder die Pianistin angehalten ist, sich still vor das Klavier zu setzen, thematisiert wurden, und welche uns “Music of Cages” auch wieder stellt. Plötzlich hören wir uns selbst, hören die Leute neben uns, ein Räuspern im Raum, das Knacken der Stühle im Konzertsaal, das Dispositiv einer Musiktradition aus dem 19. Jahrhundert, unsere hypervernetzt-schizophonische Gegenwart.
«Hast Du ihr Gesicht gesehen?»
Ich bin ziemlich glücklich und irgendwie berührt, als ich mich etwas nach 21 Uhr auf den Weg Richtung Bodensee mache. Es ist nicht einfach eine solche Performance abzuliefern. Ganz ohne Bühne, ohne Distanz zum Publikum, und nicht in irgendeiner anonymen Großstadt, sondern vor Freunden und Familie. Ich habe einige Besucher und Besucherinnen gesehen, die wirklich erstaunt, teils fast ein wenig irritiert waren, ihre Kinder oder Enkel oder Bekannten in so einer Rolle zu sehen. “Hast Du ihr Gesicht gesehen?”, fragt eine Dame ihre Gefährtin. Ich weiss welches Gesicht sie gemeint hat. Das Gesicht einer unerschrockenen Performerin. Auch ich, der vermeintliche Musikkritiker habe in ihr Gesicht geschaut, und ich musste meinen Blick abwenden, mich geschlagen geben. Ihr habt das wirklich, wirklich gut gemacht!
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