von Dieter Langhart, 03.05.2022
«Entscheidend ist die Poesie»
Die Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld gibt neu eine Edition namens «Sprachnachrichten» heraus. Den Auftakt macht der Essay «Sprache und Gefässe» des Schriftstellers Usama Al Shahmani. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Was für Sätze in diesem Text von Usama Al Shahmani liegen: «Kriege verkürzen die Sprache und lassen sie mürrisch werden» oder «Verzeih, aber alle Wörter sind Herrschaftsinstrumente und Werkzeuge der Diktatur»; «Sprache lässt sich durch Schweigen ersetzen» oder «Unter den unausgesprochenen Wörtern leide ich noch heute»; «Doch es gibt einen Riss zwischen Sprache und Wirklichkeit, der nicht immer zu kitten ist» oder «Auf Deutsch zu schreiben, ermöglicht es mir, mit Steinen der Verzweiflung ein Haus voller Hoffnung zu bauen».
Der aus dem Irak geflüchtete Usama Al Shahmani hat sich mit seinen Romanen rasch in die Schweizer Literatur eingeschrieben, mit «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch», «Im Fallen lernt die Feder fliegen» und kommenden Herbst «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt». Und die Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld hebt mit einem Essay Al Shahmanis ihre neue Edition «Sprachnachrichten» aus der Taufe.
«Die Theaterwerkstatt soll künftig auch ein Ort literarischer Produktion werden.»
Judith Zwick, Literaturvermittlerin (Bild: Brigitte Elsner-Heller)
«Die Theaterwerkstatt ist seit jeher eine Produktionsstätte», sagt Judith Zwick. Sie konzipiert literarische Veranstaltungsreihen, Podcasts und die neue Edition. «Die Theaterwerkstatt soll künftig auch ein Ort literarischer Produktion werden, wenn auch in ganz bescheidenem Umfang», sagt sie.
Ziel sei es, Textproduktionen von Autorinnen und Autoren zu fördern. «Wir wollen Themen lancieren, die wir für relevant halten, und Sprachnachrichten der andern Art in die Welt schicken aus der Lust an Texten und auf Texte.»
Die Theaterwerkstatt bilden seit einigen Jahren vier freischaffende Schauspieler und Regisseure und eine Puppenspielerin [: Simon Engeli, Joe Fenner, Noce Noseda, Giuseppe Spina und Rahel Wohlgensinger]. Judith Zwick hat Al Shahmani angefragt, ob er den Anfang machen möge dieser Reihe, die jedes Jahr einen Autor oder eine Autorin einlädt – und es war seine Idee, über Sprache zu schreiben, aber auch über Krisen in der Gesellschaft.
«Die Sprache ist mein Thema», sagt er. Die Form war ihm überlassen, und er wollte als Literat schreiben, nicht als Essayist. Er untersucht die Qualität der Sprache, die ein Gefäss für das Gesagte und das Ungesagte sei. In seinem zweiten Roman habe er sich der Sprache – «ein unendliches Thema» – ebenso wie der Sprachlosigkeit angenommen.
Sprache und Krieg
Sprachen seien wie Kleider, und das Sprechen sei, als hole man etwas aus dem Lager der Sprache. Natürlich erwähnt er den Krieg im Irak: «Der Krieg nimmt der Sprache die Geduld und macht sie atemlos.» In der Schweiz habe er der Sprache angehört, dass kein Krieg im Land herrsche. Und ihm fielen die Konjunktive auf, das Indirekte: «Dürfte ich zahlen bitte?»
«Die Sprache ist mein Thema.»
Usama Al Shahmani, Schriftsteller
Und er schwenkt zum Krieg in der Ukraine: «Kann die Sprache diese Enge tragen? Ist dies die Aufgabe der Literatur?» Wir seien die Sprache, sagt Al Shahmani, und ist irritiert über Wörter wie Flüchtlingswelle: «Wir wollen uns schützen vor Menschen, die Schutz suchen.»
Überflüssige Gattungsbezeichnungen
Seinen Essay für die Theaterwerkstatt versteht Usama Al Shahmani literarisch, nicht wissenschaftlich. Der Schreibprozess habe den Inhalt bestimmt, und er habe zwei Gefässe – das arabische und das deutsche – verbinden wollen, ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede.
Wie verhält sich der Essay zur Literatur? «Literatur gibt keine Erklärungen oder gültige Antworten, aber sie gibt uns Poesie und Fragen.» Gattungsbezeichnungen seien meist überflüssig, sagt Al Shahmani [und verweist etwa auf die Autorin Zsuzsanna Gahse aus Müllheim]. «Entscheidend ist die Poesie. Die Sprache ist zentral und nicht das Thema oder der Inhalt eines Buches.»
Wörter sind frei
Für Al Shahmani sind die Wörter frei, denn sie gehören niemandem. Sprache sei Freiheit, ihr Boden sei der Diskurs. Literatur könne uns retten, könne parallele Welten darstellen. Sie schaffe neue Gefässe und Räume, sie erweitere und bereichere Sprache, gebe ihre Energie. Und folgerichtig lässt er den Satz «Ich beherrsche eine Sprache» nicht gelten.
Hier kann man den Essay kaufen
Den Essay von Usama Al Shahmani kann man auf Papier ( 12 Franken) oder in digitaler Ausgabe (10 Franken) kaufen. Beides ist über die Website der Theaterwerkstatt Gleis 5 erhältlich: https://www.theaterwerkstatt.ch/editiontheaterwerkstatt
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