von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 07.10.2020
Heimat in Ketten
„Im Fallen lernt die Feder fliegen“ heisst der neue Roman von Usama Al Shahmani. Es geht um Heimat, Herkunft, Flucht und zu lange gehütete Geheimnisse.
Über kaum einen anderen Begriff ist in den vergangenen Jahren so viel und so intensiv diskutiert worden, wie über jenen der Heimat. Was soll das auch sein? Ein Ort? Ein Gefühl? Eine Erinnerung? Zu den vielen bereits existierenden Heimatdeutungen fügt der in Frauenfeld lebende Schriftsteller Usama Al Shahmani jetzt eine weitere hinzu: Sein neuer Roman „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ handelt vom Heimat finden, Heimat verlieren und Heimat suchen.
Hauptfigur des Romans ist Aida. Geboren in einem iranischen Flüchtlingslager, kam sie mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Nosche in die Schweiz. Während Aida und Nosche ihr neues Leben in Frauenfeld geniessen, fremdeln die Eltern mit dem Westen. Die Schweiz bleibt für sie eine Zwischenstation, früher oder später wollen sie zurück in den Irak, ihre Heimat. Als sich nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, die Möglichkeit zur Rückkehr bietet, ergreifen die Eltern diese Gelegenheit sofort - gegen den Willen ihrer Töchter.
Ein Ort, an dem man einfach sein kann?
Kaum Chancen auf Bildung, wenig Freiheit, Unsicherheit in einem instabilen Land - im Irak angekommen sehnen sich Aida und Nosche schnell zurück nach ihrem Leben in der Schweiz. „Das Dorf war schön, aber nur wegen der Natur. Meine Eltern suchten ihre alten Spuren. Ich aber war spurenlos, einfach ohne etwas, was mich verband, weder mit dem Ort noch mit den Menschen. Nichts berührte mich, ich fühlte mich unendlich fremd“, sagt Aida an einer Stelle über ihre Zeit im Irak. Die Schwestern beschliessen das Land wieder zu verlassen.
Das ist in etwa die Handlung von Al Shahmanis Roman, der einen manchmal mit seiner sprachlichen Schönheit betört, manchmal aber auch ein bisschen ratlos zurücklässt. Das hat viel mit der Hauptfigur Aida zu tun, die in ihrer Vielschichtigkeit schwer zu fassen ist. Sie riegelt ihre Herkunft nahezu hermetisch ab. Wann immer ihr Freund Daniel (in der Rahmenhandlung) nach Aspekten fragt, die mit ihrer Vergangenheit zu tun haben, erlebt sie dies als Einengung. Einerseits. Andererseits sucht sie nach Zugehörigkeit, nach Nähe und einem Ort, an dem sie nicht das Gefühl haben muss, ihr Inneres schützen zu müssen, ein Ort, an dem sie einfach sein kann.
„Eine Heimat kann man nur dann verlieren, wenn man sie an einen Ort kettet.“
Aus „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ von Usama Al Shahmani, Seite 118 (Bild: Ayse Yavas)
Einer der schönsten Sätze des Romans steht mittendrin: „Warum behandelten meine Eltern ihre Heimat in der Fremde wie ein Pferd, auf dem sie versuchten, in die Freiheit zu reiten, ohne dieses Pferd zu verstehen? Heimat bedeutet mehr, als meine Eltern begriffen. Eine Heimat kann man nur dann verlieren, wenn man sie an einen Ort kettet.“
So sehr man versteht, wie Aida wurde, was sie ist, so sehr man ihren Widerstand gegen Identitätszuschreibungen anderer nachfühlen kann - so richtig nah kommt man als Leser Aida nicht. Gut möglich, dass diese Distanzierung auch für den Autoren Usama Al Shahamni notwendig war, um über Flucht und Familie schreiben zu können. Er selbst hat ja seine ganz eigene Fluchtgeschichte. Diese Distanz hat freilich auch ihr Gutes: Sie verhindert, dass der Roman rührselig wird.
Präziser Blick in die Welt der Flüchtenden
Die Konzentration auf Aida als Hauptfigur und die Anlage die Geschehnisse aus ihrer Sicht zu erzählen, führt freilich auch dazu, dass manche Erzählstränge ausbleiben. Wie die Eltern beispielsweise auf die Flucht ihrer Töchter reagieren, dazu erfährt man kaum etwas. Der Leser muss sich diesen dramatischen Moment der Erkenntnis im Elternhaus selbst vorstellen. Das bleibt ein bisschen unbefriedigend.
Trotzdem gelingt Al Shahmani mit seinem zweiten Roman insgesamt ein präziser Blick in die Welt der Flüchtenden und nicht nur der Geflüchteten. Es geht ihm nicht nur um die Flucht vor politischer Verfolgung, sondern auch um die Flucht vor sich selbst, und was es mit einem Leben macht, wenn man sich diesem Vor-sich-selbst-davon-laufen nicht stellt. Damit ist „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ ein passender Roman zur Debatte um Begriffe wie Heimat, Kultur, Integration sowie dem politischen Umgang mit Migration. Es ist aber ebenso ein anschauliches Beispiel dafür, wie geschundene Seelen irgendwann auch wieder so etwas wie Frieden finden können.
Das Buch
Usama Al Shahmani. Im Fallen lernt die Feder fliegen. Limmatverlag Zürich.
Eine Besprechung seines ersten Buches «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» könnt ihr hier nachlesen
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