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von Maria Schorpp, 16.10.2023

Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit
Stimmt mein Weg? Was ist für mich gut? Sara Vivian Weber. | © Beni Blaser

Im Eisenwerk ist das Stück „gottlos rostend“ zu sehen. Lässt man sich ein auf die Eigenproduktion der Freien Bühne Thurgau, macht sie wach für die Frage, was unser Umgang mit der Zeit für unser Leben bedeutet. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Es gibt die unterschiedlichsten Methoden, einen schrillenden Wecker zum Schweigen zu bringen: panisch sich die Ohren zuhalten, ihn in Wasser ertränken oder ihn gar würgen. Einfach Batterie rausnehmen geht auch. Aber was ist schon einfach, wenn es um die Zeit geht. Sie hat uns – nicht wir sie –  im Würgegriff. Und sie ist allgegenwärtig, sie gibt unser aller Alltag den Rhythmus vor.

Gekettet und eingeschnürt

Und der scheint in der neuen Inszenierung der Freien Bühne Thurgau (FBTG) dem Schlagrhythmus einer Galeerenstrafe zu gleichen. Die sechs Darstellenden im Eisenwerk kommen gekettet auf die Bühne. Sie sind nicht nur eingeschnürt, sondern auch behängt mit diesen metallischen Gliederbändern, die bei näherem Hinsehen Uhrenketten ähneln. Was an einem selbst hängt, lässt sich auch wieder abnehmen. Darum geht es in der fünften Eigenproduktion der FBTG: sich durch Befragen unseres Umgangs mit der Zeit von selbstauferlegten Zwängen zu befreien.

Regisseur Eric Scherrer bringt mit dem Ensemble aus Corine Fischer, Sarina Hess, Maksim Bitsch, Lily-Rose Demeulemeester, Sara Vivian Weber und Aleena Krähemann eine Reihe starker Einzelbilder auf die Bühne, die den Spielenden viel Platz lässt. Im Wesentlichen werden ein paar Kissen, die an Steine erinnern, als multifunktionale Requisiten für die Szenengestaltung genutzt. Und da ist noch der Gong, der die (Bühnen)Zeit in Einheiten fragmentiert.

 

Zeit nutzen, heisst, Leistung erbringen: (v. l.) Maksim Bitsch, Sara Vivian Weber, Corine Fischer, Sarina Hess, Lily-Rose Demeuleemester und Aleena Krähemann (im Hintergrund). Bild: Beni Blaser

Die Rückeroberung von Selbstbestimmung und Nähe

Als ob sie schon durch die Form der Szenenfolge unsere Vorstellung von einer gleichmässig fliessenden Zeit in Frage stellen wollte, erzählt die Inszenierung nicht eine kontinuierliche Geschichte. Es sind eher Szenen, die auch in der Tonlage sehr vielfältig sind und doch am Ende zu einem Ergebnis zusammenführen – zur Rückeroberung von Selbstbestimmung und damit auch von Nähe.

Was ziemlich kopflastig klingt, wird auf der Bühne des Eisenwerks mittels origineller Bilder assoziativ aufgeladen. Da ist die Tafel, an der Königinnen Platz nehmen, die von Bediensteten mit Palmwedeln eskortiert werden.  Eine selbstgewisse Gesellschaft lässt sich nieder, von der so Sachen zu hören sind wie: „Ich mache jetzt denn en Yoga Retreat uf de Kanare.“ Oder: „Ich bin gad mis Risiko id Hedgefond-Investierig am abwäge.“ Aber auch: „Min Bedienstete het graui Haare bechoh.“ Ein böses satirisches Kommunikationsdesaster gut betuchter Kreise, die Zeit mit Geld füllen.

Was bedeutet es, Zeit zu nutzen?

Die Zeit schrumpft, die Zeit dehnt sich aus. Was bedeutet es, Zeit zu nutzen? In unserem Alltag zunächst einmal, Leistung zu bringen. Zukunftserwartungen zu genügen. Das macht Angst, die sie auch mal durch Kartenlegen in den Griff kriegen wollen. Que sera, sera. Stimmt mein Weg? Was ist für mich gut? Der Blick in die herbeigetragenen Spiegel lässt das Abenteuer Selbstfindung erahnen.

Und dann die Vogelschar. Einmal stehen alle da und machen mit den eckigen Kopfbewegungen von Vögeln deren Laute nach. Rufe in den Wald nach dem Anderen, während in der Ecke die Vogelkundlerin mit dem Fernglas und viel Spezialwissen aufwartet. Das Ensemble der Freien Bühne wäre nicht es selbst, wenn es nicht eine gute Prise Ironie und Humor mit einfliessen lassen würde. Auch dann, wenn es so berührend wird wie beim Kampf zweier Personen um Nähe und Distanz, wobei immer neue Grenzlinien auf dem Bühnenboden gezogen und wieder verwischt werden.

 

Sarina Hess als Vogelkundlerin. Bild: Eric Scherrer

Wie eine ferne Erinnerung an die Körperlichkeit

Die Klaviermusik von Philip Glass trägt ganz erheblich zur Atmosphäre des Bühnengeschehens bei, diese wunderbaren ruhigen, suchend sich vorantastenden Klänge. Als ob die Menschen nur noch eine ferne Erinnerung an ihre Körperlichkeit hätten, unternehmen zwei Personen immer wieder in verschiedenen Variationen und Konstellationen Annäherungsversuche. Zeit in Bewegung umgesetzt. Auch das der Versuch einer Rückeroberung zutiefst menschlicher Bedürfnisse und Regungen.

Wut zum Beispiel. Passt nicht in eine Gesellschaft, in der die Abläufe stimmen müssen. Wikipedia erklärt, was im Hirn oder in der Muskulatur passiert, wenn jemand wütend ist. Am Ende liegt die Person auf den Steinkissen und wird von einem ganzen Therapeuten-Team umringt. Wütend sein ist hässlich und macht schlechte Stimmung.

Gefühle werden wegtherapiert

Menschen, die keinen direkten Draht mehr zu ihren Gefühlen haben. Gefühle, die wegtherapiert werden anstatt ihnen auf den Grund zu gehen. Dann das Bild vom Wasserbüffel, der geduldig nach seinem Wasserloch sucht und sich in seinem Spiegelbild erkennt. Die Zeiteinheiten entgrenzen sich, verlieren ihren Zwangscharakter.

Eine mutige Inszenierung, die wohl nicht in allem mit dem Kopf erfasst werden möchte, die einen vielleicht deshalb so stark ins Stück hineinzieht. In ihren allerbesten Momenten ist sie tief berührend, wenn sie der menschlichen Bedürftigkeit nach Nähe ein Bild gibt. Dann kommt ein Tanz wie der am Schluss zustande.

Noch Fragen? Heisst es am Ende ans Publikum gewendet. Ja, jede Menge, und das ist gut so.

Weitere Vorstellungen am 19.und 20.10.2023, jeweils um 20 Uhr im Eisenwerk.

 

Wütend sein ist hässlich, macht schlechte Stimmung und muss wegtherapiert werden: (v. l.) Sarina Hess, Maksim Bitsch, Sara Vivian Weber (auf dem Boden), Corine Fischer, Aleena Krähemann. Bild: Eric Scherrer

 

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