von Maria Schorpp, 04.11.2025
Warten auf das Leben

Das Theagovia Theater inszeniert Tschechows „Drei Schwestern“ als packende Tragikomödie, der ein wenig mehr Komödie gutgetan hätte. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Militärarzt und Trinker Tschebutykin hat die finale Lösung für sein Problem mit dem Leben gefunden. Vielleicht existieren wir ja gar nicht wirklich, ja, es existiert gar nichts, sinniert er während eines Alkoholexzesses in guter alter philosophischer Tradition. Alles Einbildung, diese Welt um uns herum, und damit auch das Leiden an ihr, diese Sehnsüchte nach dem wahren Leben, nach Sinn, nach Liebe. Arzt ist Tschebutykin nur auf dem Papier. Seit er die Universität verlassen hat, hat er keinen Tag gearbeitet, nur einmal ist er ins Handeln gekommen und hat prompt eine Frau ins Jenseits befördert.
Ein bisschen wie Charlie Chaplin
Tschebutykin ist der traurige Clown in der Inszenierung von Anton Tschechows „Drei Schwestern“ des Theaters Theagovia. Schauspielerin Patricia Venturini erinnert in ihren viel zu weiten Hosen ein bisschen an Charlie Chaplin, wie er als in die Welt Geworfener um Orientierung kämpft. Sie macht sich gut als Slapstick, der das Lebensdrama dieser Menschen auf der Bühne als Komödie enttarnt, wenn auch als absurde. Für die anwesenden Menschen ist es allerdings egal, ob alles eine Illusion oder real ist. So oder so verpassen sie das Leben.
„Nach Moskau!“ Das ist der Schlachtruf zumindest von Olga und Irina, von zwei der drei Schwestern, Mascha ist verheiratet in der provinziellen Garnisonsstadt, in die es die Familie vor elf Jahren verschlagen hat, als der Vater Gardegeneral wurde. Jetzt ist er tot, und Moskau ist dort, wo all die Träume von einem wirklichen Leben wahr werden.
Sie sitzen auf gepackten Koffern
Überall auf der Bühne in Weinfelden stehen Koffer und Reisetaschen herum, die Menschen sitzen im Wortsinn auf gepackten Koffern. Regisseurin Désirée Wenger lässt sie einmal in Trenchcoats auftreten, da sehen sie aus wie „Sans-Papiers“ im eigenen Land. Unbehauste, jede und jeder für sich allein. Nie angekommen. Immer wartend auf Erlösung aus dem Wartezustand. Ein sehr intensiver Moment.
Dabei ist nicht alles deprimierend, was sich zwischen diesen Menschen ereignet. Barbara Maier Lopez als Olga, Corina Keller als Irina und Mona Walter als Mascha spielen die drei Schwestern jede auf ihre Art als drei gefühlvolle Menschen, die sehr fröhlich sein können. Sie fühlen sich untereinander verbunden, auch den Menschen um sie herum.
Dass ihr Bruder Andrej (Andreas Kranzler) zuerst ihre Hoffnungen auf eine Professur enttäuscht und dann ihr gemeinsames Haus verspielt, nehmen sie ihm gar nicht so übel, wie er es verdient hätte. Auch der langsame Eroberungsfeldzug von Schwägerin Natascha (Valentina Koch) ertragen sie mit einigem Gleichmut. Dass diese die alte Kinderfrau Anfissa (Yvonne Müggler) schlecht behandelt, empört sie mehr.
Balanceakt mit Tschechow
Aber warum diese Unfähigkeit, im Leben anzukommen? Die drei Schauspielerinnen wechseln mühelos zwischen Unbedarftheit und einer Apathie, deren Verzweiflung gerade in ihrer eigentümlichen Rätselhaftigkeit überzeugend ist. Mitten auf der Bühne schaukelt ein Bett. Wenger und das Ensemble balancieren Tschechows vielsagende Uneindeutigkeit sehr schön aus. Sie müssen nichts ins Heute holen – die Schauspielenden tragen historische Kostüme –, um Wiedererkennungsmomente zu erzeugen. Die Ursache für die Langeweile ist nur vordergründig die Provinz. Die gefühlte Sinnlosigkeit kommt aus ihnen selbst, aus ihrer inneren Unruhe, die sie lähmt.
Suche nach Erlösung in der Arbeit
In der Arbeit suchen sie Erlösung, das ist das moderne an ihnen. Anders als Tschebutykin. Baron Tusenbach (Nick Ceccon), am Ende Irinas Verlobter, ist mit der Verachtung für Arbeit aufgewachsen. Olga ist Lehrerin – Barbara Maier Lopez klirrt fast vor Hysterie, wenn sie von der ungeliebten Tätigkeit spricht. Irina wird Telefonistin und hasst ihren Job nicht weniger. Mascha hat solche Ambitionen nicht, sie hält sich neben ihrem überangepassten Mann Kulygin (Ramona Fröhli) einen Liebhaber, oder besser, eine Liebhaberin.
Das Theagovia Theater musste mangels männlicher Darsteller drei Männerrollen mit Frauen besetzen, wobei Oberstleutnant Werschinin zu Frau Oberst Werschinina (Isabel Schenk) umgeschrieben wurde und somit dieser Männerwelt ein lesbisches Liebespaar beschert wird. Eine Überraschung, die trägt.
Frühform der Helikopter-Mutter
Man befindet sich in einer Übergangszeit, neue Gesellschaftsschichten kommen nach oben, die Kleinbürgerin Natascha hat Ehrgeiz. Valentina Koch gibt eine Frühform der Helikopter-Mutter, man spürt auch ihre innere Unruhe, die sie aber nicht passiv macht, sondern kaltschnäuzig dazu nutzt, die Schwestern zu verdrängen. Sie weiss die Gunst der Stunde zu nutzen, während sich die anderen Gedanken darüber machen, wie die Zukunft die Gegenwart sehen wird. Die Zukunft, die auf jeden Fall grossartig werden wird. Die Vergangenheit, zumal die in Moskau, war es auf jeden Fall. Die Gegenwart ist das Problem.
Als dann die Kompanie weiterzieht, wird die Isolation der Schwestern real. Für ihr Traumziel Moskau hat ihnen wohl die Entschlossenheit gefehlt. Auch die Offiziere geben sich wehmütig. Es scheint, als ob diese Menschen die Gegenwart nur als Vergangenheit schätzen können. So schöne Zeiten hätten sie in ihrem Haus gehabt, sagt Offizier Fedotik (Urs Hasenfratz). Und als dann Baron Tusenbach von Offizier Soljony (Yvonne Müggler) im Duell getötet wird, zeigt die Gegenwart ihre erdrückende Macht. Ein packendes Spiel, dem man zwischendurch vielleicht etwas mehr und eindeutiger von Tschebutykins absurdem Humor gewünscht hätte.

Von Maria Schorpp
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