von Maria Schorpp, 04.10.2022
Die Zeit der Raubtiere
Die Freie Bühne Thurgau geht mit ihrer vierten Eigenproduktion „Fuck the Raccoons“ im Frauenfelder Eisenwerk auf die kompromisslose Suche nach Wahrheit. Und macht sich zwischendurch noch ein bisschen lustig über das Publikum. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Der Waschbär ist ein sogenannter Neozoon, das sind Tiere, die sich in Regionen ausbreiten, in denen sie eigentlich nicht heimisch sind. Der Waschbär, der ursprünglich in Amerika zu Hause ist und im 20. Jahrhundert mit dem Menschen nach Europa gelangte, ist hierzulande einer der erfolgreichsten dieser Neuankömmlinge. Da er sehr anpassungsfähig ist, verdrängt er insbesondere zahlreiche heimische Vogelarten oder lebt da, wo es Nahrung im Überfluss gibt, in den Städten bei den Menschen.
Waschbär gleich Immobilienhaie
Er ist nicht sehr beliebt, der Waschbär, und kann durchaus an eine andere invasive Art erinnern, die ähnlich vorgeht: die Immobilienspekulanten, die sich ganze Stadtbezirke einverleiben und ohne Rücksicht auf Verluste die ansässigen Menschen verdrängen. „Fuck the Raccoons“ („raccoon“ gleich Waschbär) steht über der neuen Eigenproduktion der Freien Bühne Thurgau. Immobilienhaie, Baulöwen und jetzt noch die Gentrifizierungswaschbären – die Branche legt Assoziationen mit Raubtieren nahe.
Um eine softe Sicht auf die Welt geht es der Inszenierung jedenfalls nicht. Auch die Aktivisten im Stück, die scheinbar auf der richtigen Seite stehen und sich gegen diesen Verdrängungswettbewerb wehren, werden nicht durch die rosarote Brille gesehen. Alle nicht heldentauglich mit ihrem Schlachtruf „Fuck the Raccoons“, wie wahrscheinlich die meisten Helden nicht heldentauglich sind, wenn man genau hinschaut.
Nur existieren reicht nicht
Und das tun die fünf Darstellenden von der Freien Bühne Thurgau mit ihrem Regisseur Eric Scherrer. Sie schauen genau hin und sehen junge Menschen, die den Anforderungen der Zeit standzuhalten haben, die vor allem darin besteht: gesehen zu werden. Und das unter den erschwerten Bedingungen, dass eigentlich niemand mehr richtig hinschaut. Nur zu existieren reicht nicht.
Wie Sarina Hess als Erzählerin eingangs so unterkühlt wie die Eiswürfel, von denen sie spricht, ans Verrinnen der Zeit erinnert, ist da ganz schön viel herzensschwere Poesie drin. Kaya (Corine Fischer) mit den löchrigen Strümpfen ist so eine, die die Zeit zwingen will, ihre Träume von einem aussergewöhnlichen Leben zu verwirklichen. Deswegen hat sie sich mit Freundin Linn (Lily-Rose Demeulemeester) der Aktivistengruppe „Fuck the Raccoons“ angeschlossen. Mit Spraydosen bewaffnet haben sie den Invasoren von der Immobilienbranche den Kampf angesagt.
Den Mittelpunkt des Bühnenraums nimmt ein Stahlgerüst ein. Darüber und daneben ist Leuchtreklame zu sehen mit Aufschriften wie „Harmonica“, „Dioptry“ und „Grosi’s Kaffikanne“, ein Geschäft, ein Club und ein Café, die einem Betonklotz weichen sollen. Daneben auf dem Boden stehen Holzkisten, die die Spielenden immer wieder als Trommeln nutzen, mit denen sie das Bühnengeschehen mit zusätzlicher Spannung aufladen.
Publikum ist gefordert
Was da abläuft, ist mehrdimensional. Das Ensemble und ihr Regisseur fordern ihr Publikum, mit Absicht, wie sie in einer der Szenen verraten, in denen sie einfach mal als Ensemble auftreten, das sich gern ein bisschen über sein Publikum lustig macht. Tatsächlich ist die Unterscheidung der verschiedenen Erzählstränge anspruchsvoll, manchmal auch etwas verwirrend. Na und, würden sie wahrscheinlich sagen. Das Hirn zu gebrauchen, hat noch keinem geschadet.
Was aber klar wird: Die Person der Kaya steht zweimal auf der Bühne. Katyana (Sara Vivian Weber) ist Kaya ein paar Jahre später, wie sie versucht, sich als Autorin, die ihre Zeit als Aktivistin in einem Buch verarbeitet hat, zu verewigen.
Das Ringen mit der Wahrheit
Fast selbstquälerisch ringt sie mit der Wahrheit, obwohl sie in ihrem Buch offenbar ein Bild von sich gezeichnet hat, das mehr dem Wunsch als der Wirklichkeit entspricht. Die professionelle Glätte ihres Fernsehauftritts im kleinen Schwarzen soll verschleiern, dass die Selbstzweifel sie schon längst innerlich zerfressen.
Diese werden auf der Bühne im wahrsten Sinne des Wortes ausgespielt. Was Katyana schreibt, was sie denkt und was sie erinnert, wird quasi nebenan dargestellt. Die Spielenden tragen dann dunkle Kittel. Zur besseren Kenntlichmachung der Ebene, aber vielleicht auch als Anmerkung, dass die Suche nach sich selbst ins Dunkel führt.
Kaya überschreitet die rote Linie
Es ist auf jeden Fall viel schief gelaufen im Kampf gegen die Bauspekulanten, Jonathan (Maksim Bitsch), der Anführer der „Fuck the Raccoon“-Aktivisten kommt zu Tode. Er scheint ein nicht ganz sauberes Spiel gespielt zu haben. Kaya ergreift ihre Chance - und überschreitet eine rote Linie. Wie sie dann in Zeitlupe vor der Polizei davonrennt, ist nur eine der zahlrechen bildstarken Szenen der Inszenierung.
Am Ende steht sich Kaya/Katyana selbst gegenüber. Grosses Finale. Ob dann Frank Sinatras „My Way“ noch ganz ironiefrei gemeint ist, bleibt die Frage. Die jungen Leute auf der Bühne wollen ihrem Publikum etwas bieten. Eine richtige Geschichte. Sagen sie. Vielleicht Hollywood oder so was.
Sie sind zum Spötteln aufgelegt. Das dürfen sie angesichts dieser klasse gespielten und entwickelten Geschichte von der Suche nach sich selbst in Zeiten der Raubtiere.
Termine: Letzte Vorstellungen am 6. und 7. Oktober 2022 im Eisenwerk.
Von Maria Schorpp
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