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von Maria Schorpp, 01.11.2024

Problemfamilie mit Wiedererkennungswert

Problemfamilie mit Wiedererkennungswert
Konfliktreiche Mutter-Tochter-Beziehung: Isabel Schenk als Brigitte und Ingrid Isler als Mutter Verena. | © Markus Bauer

Die Eigenproduktion „Familienidylle“ des theagovia theater zeigt eine Familie im Ausnahmezustand, der vielleicht gar nicht so ungewöhnlich ist. Premiere ist am kommenden Samstag. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Weihnachten und Beerdigungen sind die Anlässe, zu denen nicht selten Familien zusammenkommen, die das eigentlich gar nicht wollen. Und besser auch nicht sollten. Die Emotionen haben sich ganz dicht unter der Hautoberfläche zusammengeklumpt und sind kurz vor dem Platzen. So auch in der gar nicht so kleinen Sippe, die sich ab dem kommenden 2. November im Theaterhaus Thurgau in Weinfelden zur „Familienidylle“ trifft. Schon allein der Titel des Stücks lässt Böses erahnen. Zu Recht. Das theagovia theater wird sein Bestes geben, um dieser Idylle zu Leibe zu rücken. Was durchaus komisch sein kann.

Wenn sich die Menschen unbeobachtet fühlen

Kurz vor der Premiere sieht das schon ganz gut aus. Nicht nur, weil beim Durchlauf kaum Texthänger auffallen. Und auch nicht nur, weil die Bühne steht. Vier Räume sind zu sehen, nebeneinander auf vier Ebenen, ohne dass es Trennwände gäbe. Diese Transparenz ist beabsichtigt. Regisseurin Orietta Bitetti und ihr Ensemble zeigen die Menschen auch dann, wenn sie nicht im Rampenlicht stehen und sich quasi unbeobachtet fühlen: „Die Personen zeigen diverse Charaktereigenschaften, je nachdem, mit welchen Menschen in welchen Interaktionen sie sich bewegen. Diese Vielschichtigkeit wollen wir zeigen.“

 

Fatale Liebe: Sohn Manuel von Nick Ceccon und Corina Keller als vermeintliche Cousine Stefanie. Bild: Markus Bauer

Schluckt Tabletten, als wären es Drops

Bei aller Differenziertheit kommt die Regisseurin nicht um die Feststellung herum: „Es ist ein Familiendrama.“ Dass der Vater zu beerdigen ist, steht zunächst noch gar nicht fest. Er ist einfach verschwunden, nicht zum ersten Mal. Man kanns verstehen, mit dieser Ehefrau. Schluckt Tabletten wie andere Drops für frischen Atem, ist manipulativ, fremdenfeindlich und egozentrisch. Was sie Wahrheit nennt, sind ihre eigenen gefühlsgetränkten Wirklichkeiten. Es lässt sich aber auch nicht mehr feststellen, welchen Anteil der Verschwundene an diesem Ehe- und Familiendrama hatte. Tatsächlich wird er bald tot aufgefunden. Er ist dem Kältetod erlegen. Vermutlich Selbstmord.

Bei Ingrid Isler agiert diese Mutter wie eine Grande Dame der Gefühlskälte, und dennoch wirkt sie nicht böse. Man versteht aber, weshalb Isabel Schenk, die deren Tochter Brigitte spielt, über ihre Rolle sagt: „Sie bringt ihre Freundin Beatrice mit, weil die Beziehungen etwas zerrüttet sind, da nimmt man eher Freunde mit als Verwandte.“ Wem anderes als einer Freundin offenbart man solche bösen Gedanken, dass man es lieber hätte, die Mutter sei verschwunden und der Vater noch da.

In anderen Familien ist es auch nicht besser

Isabel Schenk, auch Präsidentin des Vereins des theagovia theater, betont die positiven Seiten des Stücks: „Jeder hat Probleme in der Familie, auch wenn man das nicht zugeben will und versucht, den schönen Schein zu wahren. Vielleicht ist es tröstlich zu sehen, dass es in anderen Familien auch nicht viel besser ist.“  Der Vereinsvorstand wünschte sich ein Stück, das einerseits ernst ist, das aber auch eine leichte Seite zeigt. Allein schon durch die Konzentration dieser Problemfamilie in einem einzigen Haus entstehen solche zugespitzten Situationen, dass die Spannung nur noch durch Lacher entweichen kann. Da ist ja nicht nur Brigitte mit ihren Eheproblemen. Da ist auch Sohn Manuel, der nebenan wohnt und deshalb das ganze Kümmernmüssen am Hals hat.

 

Die Letzte, die am Ende noch da ist: Amira von Barbara Maier Lopez. Bild: Markus Bauer

Mit Hang zu den falschen Männern

Die zweite Tochter Karin mit ihrem fatalen Hang zu den falschen Männern hat ein Exemplar ihrer Fehlgriffe mitgebracht. Nachdem dieser Marco sich an die Schwester herangemacht hat, belästigt er die Haushaltshilfe Amira, eine Afghanin, die der Vater kurz vor seinem Verschwinden eingestellt hat. Für Szenen dieser Art, eine Beinahe-Vergewaltigung, hat das theagovia theater die Einrichtung einer Intimitätskoordinatorin geschaffen. „Sie setzt sich für die Sicherheit und das Einhalten der persönlichen Grenzen der Schauspielenden sowie für die Vision der Regie beim Erarbeiten dieser Szenen ein“, erklärt Vereinspräsidentin Schenk.

 

Was macht eine Intimitätskoordinatorin?

„Familienidylle“ ist die zweite Produktion, an der im theagovia theater eine Intimitätskoordinatorin beteiligt ist. Intimitätskoordinator:innen sind Spezialist:innen für die Darstellung intimer Momente in Film und Liveperformance. Dazu gehören Inhalte mit Nacktheit, physischer Intimität und simulierten sexuellen Handlungen sowie sexueller Gewalt. Durch die Intimitätskoordination soll ein sicherer Raum für die Schauspielenden geschaffen werden, in dem sie sich ausprobieren können und innerhalb der Produktion zu nichts angehalten werden, das für sie unangenehm ist.

 

Düsternis soll trotz allem nicht aufkommen in der Produktion der Theaterpädagogin Orietta Bitetti. Sie sagt es so: „Das Stück spricht starke Themen an.“ Auch die Fremdenfeindlichkeit von Mutter Verena gehört dazu, die sich trotz dysfunktionaler Familie schon an der mitgebrachten ausserfamiliären Unterstützung stört. Ihre Schwester, die ihre eigene Tochter drangsaliert, hat eine Schwägerin angeschleppt. Amira jedoch ist der Hausherrin ein besonderer Dorn im Auge. Am Ende ist die Fremde die einzige, in deren Schoss die Mutter noch ihren Kopf legen kann. Vielleicht der Beginn von etwas Neuem, wie die Regisseurin anklingen lässt.

Eine gewisse Heiterkeit in der Tragik

Bei der Frage, ob das Stück als Abgesang auf die Familie zu verstehen ist, lachen die beiden spontan. „Wir haben etwas überspitzt, ohne dass unsere Botschaft sein soll, dass die Ehe oder die Familie abgeschafft gehört“, sagt Isabel Schenk. „Es darf zum Nachdenken anregen,“ so die Regisseurin Bitetti, „mein Ziel ist es, eine gewisse Heiterkeit in diese ganze Tragik zu bringen. Es ist aber keine Komödie. Ich wollte keinen Stammtischschwank, sondern Figuren, die so zugespitzt dargestellt sind, dass sie einen immer wieder zum Schmunzeln bringen.“

Man darf auch auf die eine oder andere Überraschung gefasst sein, Wahrheiten, mit denen die Menschen in diesem Stück schon lange Jahre leben. Vielleicht ist, was einerseits als schöner Schein gesehen werden kann, andererseits die Stärke dieser Familie: mit Bitternis umgehen zu lernen, um die Familie zu schützen. Und deren Mitglieder, die man trotz des bösen Scheins ja doch irgendwie liebt. Man darf neugierig sein auf die Menschen in dieser „Familienidylle“.

Termine und Tickets

 

Der falsche Mann: Mona Walter als Tochter Karin und Andreas Kranzler als Marco, der sich an andere Frauen ranmacht. Bild: Markus Bauer

 

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