von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 16.12.2024
Die Qual der Wahl
Wie wir arbeiten (7): Wer entscheidet über die Themen und Texte im Magazin von thurgaukultur.ch? Redaktionsleiter Michael Lünstroth gibt Einblicke. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Starten wir mit einem Bekenntnis: Im Magazin, also dem einordnenden und journalistischen Teil von thurgaukultur.ch., können wir das vielfältige Kulturschaffen in unserer Region nicht umfassend abbilden. Das hat vor allem mit Ressourcen zu tun. Pro Woche erscheinen in unserer Agenda rund 300 Termine, im Magazin veröffentlichen wir fünf bis sechs Beiträge pro Woche.
Mehr ist nicht möglich, weil unser Autor:innenpool zu klein (aktuell zehn, die regelmässig schreiben), unser Budget begrenzt (aktuell 3600 Franken pro Monat) und auch mein Pensum als Redaktionsleiter (aktuell: 50 Prozent) limitiert ist. Letzteres ist insofern relevant als ich nicht nur selbst publiziere, sondern auch alle Texte unserer freien Autor:innen redigiere.
So gerne wir es wollten - wir können nicht bei jedem Anlass dabei sein. Da also das Verhältnis von möglichen Themen, über die wir schreiben könnten zu den Themen, über die wir am Ende wirklich schreiben unausgeglichen ist, sind wir gezwungen auszuwählen. Wie genau machen wir das? Es gibt dafür ein paar harte und einige eher weiche Kriterien. Zu den harten Faktoren zählen: Wir bemühen uns um eine regionale Ausgewogenheit.
Faktor Regionalität in unserer Berichterstattung
Unsere Autor:innen sind nicht nur in Frauenfeld und Kreuzlingen unterwegs, sondern auch in Amriswil, Arbon, Romanshorn und vielen weiteren Orten unserer Region. Trotzdem: Würden man eine quantitative Analyse unseres Angebots machen, gäbe es vermutlich eine regionale Häufung in Kreuzlingen und Frauenfeld. Das hat aber auch damit zu tun, dass dort mehr Kulturanlässe als an anderen Orten stattfinden.
Zweites hartes Kriterium: Die Vielfältigkeit der Disziplinen. Wir wollen die verschiedenen Spielarten von Kunst und Kultur abbilden. Im Magazin findest die Beiträge zu Musik, Theater, Bildender Kunst, Museen, Literatur, Film und Tanz. Hier gilt wie bei der Regionalität auch: Wir bemühen uns um Ausgeglichenheit. So achten wir beispielsweise auch bei jedem Newsletter darauf, dass wir eine gute Spartenmischung im Programm haben, damit für jede:n Leser:in etwas dabei ist.
Wie wir auf Vielfalt achten
Trotzdem geht sich das nicht immer aus. Das kann daran liegen, dass uns zu einem bestimmten Zeitpunkt geeignete Autor:innen fehlen für ein Thema, dass es wichtige Konkurrenzveranstaltungen aus einem anderen Gebiet gibt oder schlicht daran, dass das Angebot an möglichen Themen im Thurgau in der einen Sparte (Bildende Kunst) grösser ist als in einer anderen (Film). Das Profil der Thurgauer Kulturlandschaft bildet sich dann natürlich auch in unserer Berichterstattung ab.
Beim dritten Kriterium kommen wir dann schon in etwas weichere Sphären: Welche Bedeutung hat ein Anlass oder ein Thema? Oder anders gefragt: Welche Relevanz und Dringlichkeit gibt es, sich mit einem bestimmten Thema zu beschäftigen? In der Journalismus-Theorie gibt es darüber hinaus weitere Nachrichtenfaktoren, die erklären können, wann aus einem Thema eine Nachricht werden kann.
Neben den stattfindenden Terminen greifen wir ja auch, aktuelle Debatten aus Kultur und Kulturpolitik auf, beziehungsweise stossen diese erst an. Im Zweifel kann das angesichts unserer begrenzten Ressourcen beispielsweise dazu führen, dass wir uns eher für einen Beitrag zur Lage bei den kantonalen Museen entscheiden als für eine Besprechung einer einzelnen Ausstellung.
In der Serie „inside thurgaukultur.ch – wie wir arbeiten“ schreiben unsere Autor:innen über ihren Arbeitsalltag. Sie erklären, wie sie sich für ihre Termine und Texte vorbereiten, auf welchen Wegen sie recherchieren und welchen Herausforderungen sie dabei begegnen. Wir öffnen damit bewusst die Tür zu unserer Werkstatt, damit du besser nachvollziehen kannst, wie wir arbeiten und welche Kriterien uns in unserem Tun leiten.
Damit sollen einerseits unsere Autorinnen und Autoren sichtbarer werden, zudem wollen wir die Bedeutung von Kulturjournalismus damit herausstellen. Denn es stimmt ja immer noch, was Dieter Langhart im Mai für uns geschrieben hat: „Ohne Kulturjournalismus keine Abbildung und Einordnung von Kultur.“
Alle Teile der Serie bündeln wir in einem Dossier.
Auch wichtig: Bedeutung und Relevanz eines Themas
Die Bedeutung und Relevanz des ersten Themas ergibt sich für uns auch aus der Zahl der möglichen Betroffenen eines Sachverhalts. Um im Beispiel der Museen zu bleiben: Wenn das Historische Museum Thurgau weitere Jahre schwer zugänglich für Menschen mit Behinderung bleibt, weil Sanierungen aufgeschoben werden, dann hat das vermutlich mehr Einfluss auf das Leben der Menschen in unserer Region als eine einzelne Ausstellung. Mehr Betroffene bedeutet mehr Leser:innen und letztlich wollen auch wir, dass möglichst viele Menschen unser Angebot nutzen.
Das bedeutet im Umkehrschluss allerdings nicht, dass Nischenthemen keinen Platz bei uns hätten. Denn natürlich betrachten wir auch den künstlerischen Wert eines Projektes: Widmet es sich aktuellen Themen? Greift es gesellschaftspolitische Debatten auf? Ist es künstlerisch überzeugend? Verschafft es den Besucher:innen eine neue Perspektive auf ein bestimmtes Thema? Kriterien, die in der Kulturförderung eine Rolle spielen, schleichen sich so auch in den journalistischen Auswahlprozess.
Warum es bekannte Player leichter haben
Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Bekannte und etablierte Player haben es in dieser Auswahl oft leichter als ganz neue Projekte. Das hat vor allem zwei Gründe. Zum einen weiss ich beispielsweise beim Kunstmuseum Thurgau aus eigener Erfahrung ziemlich sicher, dass egal, was sie machen, immer ein bestimmtes Mass an Qualität vorhanden ist. Diesen Vertrauensvorschuss kann eine neue Galerie erstmal nicht haben.
Dazu kommt: Beim Kunstmuseum ist das vermutete Publikumsinteresse in der Regel grösser als bei einer kleinen Ein-Raum-Ausstellung eines neuen Kunstortes. Der zweite Grund ist: Grössere Player haben oft auch Verantwortliche für Medienarbeit, die Inhalte und Material so aufbereiten und schmackhaft machen können, das Journalist:innen anbeissen.
Natürlich ist das erstmal ungerecht. Als Journalist:in muss man sich diese Prozesse immer wieder bewusst machen, um nicht zu einem abgeschlossenen Raum zu werden. Wir versuchen dem zum Beispiel aktiv entgegen zu wirken, dadurch, dass wir mit verschiedenen Augen auf neue Angebote blicken, uns im Team dazu austauschen und eine grundsätzliche Offenheit leben. Wer eine gute Idee für das Kulturleben im Thurgau hat, findet in der Regel immer sehr offene Ohren bei uns.
Meine Aufgaben als Redaktionsleiter
Neben diesen Auswahlprozessen für unsere Inhalte habe ich als Redaktionsleiter weitere Aufgaben. Ich arbeite mit unseren Autor:innen an ihren Texten, ich entwickle neue Serien und Formate für das Magazin von thurgaukultur.ch und mache mir zum Beispiel gemeinsam mit unserer Social-Media-Redaktorin Piera Cadruvi strategische Gedanken, wie wir mit unseren Inhalten bisher noch nicht erreichte Zielgruppen ansprechen können.
Ich führe daneben auch informelle Gespräche mit Menschen aus dem Thurgauer Kulturleben, pflege unser Netzwerk, bilde mich so Stück für Stück, selbst immer ein bisschen weiter. Es gab hier bisher noch kein Gespräch aus dem ich dümmer heraus gegangen wäre.
Solche informellen Gespräche münden nicht immer in eine direkte Berichterstattung. Sie helfen mir eher dabei, nah an wichtigen Themen dran zu bleiben, Kontakte zu pflegen und Vertrauen aufzubauen. Denn nur wenn Menschen einem Journalisten vertrauen, erzählen sie ihm auch mal Dinge, die sie nicht in einer Medienmitteilung schreiben würden.
Wer setzt hier eigentlich die Agenda?
Auch diese Dinge müssen dann nicht immer in eine öffentliche Berichterstattung fliessen. Manchmal helfen sie mir auch nur dabei, bestimmte Entscheidungen und Ereignisse besser einordnen zu können. Gleichzeitig muss einem als Journalist stets bewusst sein: Die heissesten Geschichten erfährt man in der Regel nicht, weil die Menschen einen so mögen, sondern weil sie ein eigenes Interesse damit verfolgen.
Das betrifft vor allem das Feld der Kulturpolitik, in dem ich mich viel bewege. Um diese Eigeninteressen nicht zu gewichtig werden zu lassen, hilft es, mehrere Gesprächspartner:innen zu den verschiedenen Themen zu interviewen und sich nicht auf eine einzelne Perspektive zu beschränken. Damit will ich nicht sagen, dass alle Kulturpolitiker:innen eine fiese Absicht hätten. Es gibt auch viele Menschen in dem Bereich, die sehr okay sind. Mein Punkt ist nur - als Journalist:in muss man sich bewusst sein, dass man auch jederzeit benutzt werden kann.
Journalist:innen sind manchmal auch Übersetzer:innen
So dramatisch ist es allerdings nicht immer. Manchmal hat man als Journalist:in auch eine schlichte Übersetzungsaufgabe. In Politik und Verwaltung gibt es zunehmend Menschen, die öffentlich nur sehr vorsichtig formulieren wollen. Nicht selten verschanzen sie sich dann hinter schwer verständlichen Schachtelsätzen.
Meine Aufgabe ist es dann, diese oft ja wichtigen Anliegen, unseren Leser:innen so zu erklären, dass sie nachvollziehbar werden. Die Reaktionen aus Politik und Verwaltung darauf sind verschieden. Manche sind dankbar für die Übersetzung, andere bleiben in ihrer Habachtstellung und sagen nur Dinge, die juristisch wasserfest sind. Welche Anliegen bei den Leser:innen eher durchdringen und ankommen, kannst du dir selbst ausmalen.
Warum ich keine Texte zum Gegenlesen herausgebe
Oft werde ich auch von Gesprächspartner:innen gefragt, ob ich Texte vor der Veröffentlichung zum Gegenlesen herausgebe. Ich mache das grundsätzlich nicht, weil ich es als Eingriff in die journalistische Freiheit und Unabhängigkeit empfinden würde. Es gibt nur zwei Ausnahmen. Erstens: Originaltöne von interviewten Menschen, also ihre Zitate und auch nur diese, dürfen alle Gesprächspartner:innen vor Erscheinen lesen und gegebenenfalls auch anpassen. Schliesslich kann es sein, dass ich im Gespräch etwas falsch verstanden habe. Und ich möchte niemandem etwas in den Mund legen, was er oder sie so nicht gesagt hat.
Zweitens: Wenn mir jemand eine sehr persönliche Geschichte erzählt, mit der er eventuell sogar seine berufliche Zukunft gefährdet, gebe ich in Ausnahmefällen auch ganze Abschnitte eines Textes zum Gegenlesen heraus. Das hat etwas mit Anstand, aber auch mit professionellem Quellen- und Informant:innenschutz zu tun.
Wann KI im Journalismus hilft und wann eher nicht
Über Recherche und den Zugang zu Texten haben meine Kolleg:innen in ihren Texten viel geschrieben, deshalb halte ich mir hier kurz und gebe vier kurze Einblicke in meine sehr persönliche Arbeitsweise.
1. Für einen ersten Einblick in ein neues Thema nutze ich natürlich Internet-Suchmaschinen und Datenbanken. Mich interessiert dabei oft auch, was haben Kolleg:innen anderer Medien geschrieben. Die Thurgauer Zeitung lese ich regelmässig. Ebenso Fachmagazine, die sich mit Kultur und Gesellschaft beschäftigen.
2. Ja, ich nutze auch ChatGPT. Besonders ganz am Anfang einer Recherche. Das hilft mir dabei schnell und übersichtlich unterschiedliche Argumentationslinien zu einem Thema zu finden. Es kann auch dabei helfen, Studien zu bestimmten Themenfeldern zu finden. Aber Vorsicht: Manchmal erfindet die KI auch Studien, die es nie gab. Man muss alle Angaben immer gegenchecken! Hat man aber eine existierende Studie gefunden, kann man dann auf der Originalquelle im Detail nachlesen. Manchmal lasse ich mir von ChatGPT auch Überschriften zu Geschichten vorschlagen. Die Ergebnisse waren allerdings immer ernüchternd. Bisher hat es noch keine einzige KI-Überschrift auf thurgaukultur.ch geschafft.
3. Gerade bei grösseren Recherchen wie zum Beispiel dem jüngsten Text zur Raumkrise arbeite ich mit Mindmaps. Für Aussenstehende sieht das oft chaotisch und unübersichtlich aus. Aber mir hilft diese Technik extrem dabei, den Fokus eines Themas zu entwickeln, Zusammenhänge zu erkennen und den roten Faden einer Geschichte zu spinnen.
4. Wenn ich schreibe, höre ich fast immer Musik. Ich habe eine Playlist mit meinen Lieblingssongs (aktuell sind es 255). Jetzt gerade läuft zum Beispiel „Little Talks“ von Of Monsters and men. Die Musik hilft mir dabei, den Fokus zu halten und in einen Schreibflow zu kommen. Meine Erfahrung: Ohne Musik brauche ich viel länger für Texte.
Warum ich diesen Job immer noch liebe
Ich arbeite jetzt seit mehr als 20 Jahren im Journalismus. Obwohl der Job in den vergangenen Jahren herausfordernder und die Lage in der Branche komplizierter geworden ist, liebe ich diesen Job immer noch sehr. Das hat viel mit den Gestaltungsmöglichkeiten zu tun, die ich hier bei thurgaukultur.ch habe. Aber auch damit, dass ich mir für mich kaum einen anderen Job vorstellen könnte.
In keinem anderen Berufsfeld bekommt man so viele spannende Einblicke in so verschiedene Leben. Und: Nie war Journalismus wichtiger als heute. Ohne Journalismus gibt es keine Demokratie. Ohne Kulturjournalismus gibt es keinen offenen Diskurs über Kultur. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Auch in schwierigen Zeiten.
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Kommt vor in diesen Ressorts
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Kommt vor in diesen Interessen
- Medien
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