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Die Umnutzung des Vorgartens

Die Umnutzung des Vorgartens
Der Künstler San Keller. Er bewirbt sich mit dem Festival der Vorgärten bei Ratartouille, einem Wettbewerb der Kulturstiftung des Kantons Thurgau | © Michael Lünstroth

Der Künstler San Keller will mit einem „Festival der Vorgärten“ raus aus der Vereinzelung und die Gemeinschaft in Quartieren durch Kulturerlebnisse stärken. Damit tritt er im Finale des Ratartouille-Wettbewerbs am 7. Juli an. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Das Einfamilienhaus ist in Verruf geraten. Es verbraucht beim Bau zu viel Material pro Bewohner, es versiegelt zu viel Boden, die Wohnfläche pro Person ist überdurchschnittlich gross und durch seine Lage meist in ländlichen Gegenden führt es zu erhöhtem Verkehrsaufkommen, weil mehr Strecken mit dem Auto zurückgelegt werden. „Ein Einfamilienhaus wird niemals ein besonders klimafreundliches Haus sein“, sagte Andreas Hild, Professor für Entwerfen, Umbau und Denkmalpflege an der TU München im Juni 2023 gegenüber der Süddeutschen Zeitung.

Und trotzdem ist es im Thurgau aktuell die beliebteste Wohnform: Jeder dritte Thurgauer Haushalt wohnt in einem „klassischen“ Einfamilienhaus. „Überdurchschnittlich oft ist dies bei Familien, aber auch Paaren ohne Kinder, der Fall“, hat das kantonale Amt für Statistik festgestellt. In den vergangenen Jahrzehnten ist der Einfamilienhausanteil demnach stark angestiegen. 1990 waren erst 54 Prozent der Gebäude mit Wohnnutzung Einfamilienhäuser gewesen. Heute sind es 62 Prozent. In der gesamten Schweiz liegt dieser Wert bei 57 Prozent.

 

Beliebteste Wohnform im Thurgau: das Einfamilienhaus. Gerade deshalb ein guter Ort für Kultur, findet der Künstler San Keller. Bild: Canva

Wie das Einfamilienhaus die soziale Trennung befördert

Neben der schwierigen ökologischen Bilanz, sind Einfamilienhäuser auch sozial problematisch: Sie fördern die Vereinzelung der Gesellschaft, weil sich jeder sein eigenes Trampolin, seinen eigenen Kinderpool, seine eigene Naherholungszone in den Vorgarten pflanzen kann und der Sinn für Gemeinschaft möglicherweise verloren geht in der heimeligen Einfamilienhaus-Idylle.

Insofern ist es vielleicht ganz gut, dass sich der Künstler San Keller nun genau diesen Ort ausgesucht hat, um das Kulturleben im Thurgau zu bereichern. Mit einem „Festival der Vorgärten“ geht er am 7.Juli ins Finale des Wettbewerbs „Ratartouille“, der in diesem Jahr zum zweiten Mal von der Kulturstiftung des Kanton Thurgau ausgerichtet wird. 

Sechs Künstler:innen verwandeln Gärten in Bühnen

San Kellers Idee geht so: Gemeinsam mit sechs Kulturschaffenden reist er in verschiedene Quartiere im Thurgau, klingelt an Türen und versucht die Bewohner:innen davon zu überzeugen, ihren Vorgarten für einen Abend zur Kulturbühne werden zu lassen. „Wir müssen Kultur auch an Orten stattfinden lassen, wo man sie nicht erwarten würde“, erklärt San Keller seine Idee. Welche:r Künstler:in wo auftritt, das überlässt Keller der Aushandlung zwischen Bewohner:innen und Kulturschaffenden. 

Ist das geklärt, erarbeiten die Künstler:innen aus verschiedenen Disziplinen ihre Performances binnen eines Tages vor Ort. Am Ende soll so ein eintägiges Festival für das Quartier entstehen bei dem alle Anwohner:innen und Gäste gemeinsam Kultur erleben. Als mögliche Künstler:innen seines Festivals nennt Keller in seinem Projekt-Dossier unter anderem Simone Keller, Roman Signer, Patti Basler und Zsuzsanna Gahse. Die Auswahl trifft San Keller aus seinem Netzwerk heraus. Das jeweilige Künstler:innen-Team soll sich aus den Sparten Performance, Musik, Tanz, Literatur und Satire zusammensetzen.

Die Ausrichtung der einzelnen Aufführungen ist offen, Keller sagt aber auch: „Es darf auch unterhaltsam sein, es muss vielleicht sogar auf eine Art catchy sein.“ Denn nur wenn die Menschen eine gute Zeit haben, werde das Festival ein Erfolg, ist Keller überzeugt.

 

„Es darf auch unterhaltsam sein, es muss vielleicht sogar auf eine Art catchy sein.“

San Keller, Künstler

„Jedes Vorgarten-Festival ist einzigartig und gelingt nur im Miteinander von Bewohnenden, Kulturschaffenden und dem Publikum“, findet der Initiator San Keller im Gespräch mit thurgaukultur.ch Wir treffen uns an einem Dienstag im Mai im Arboner Quartier Bergli. Hier hat Keller sein Projekt entwickelt, es ist gewissermassen der Pilotversuch für das gesamte Vorhaben. 

Beim Spaziergang durch das Viertel habe er Vieles entdeckt. „Ich bin ein Flaneur, kein Archivtyp. Ich vertraue auf die Begegnung und den Austausch“, sagt der Künstler. Zuletzt hatte er in Frauenfeld mit „Solos & Sights“ ein Festival erfolgreich umgesetzt.

Annäherung an die Mehrheit? 

Dort hat er mit Menschen mit Fluchterfahrungen gearbeitet, jetzt wendet er sich den Vorgärten zu. Wie es dazu kam? „Die Mehrheit der Menschen im Thurgau leben in Einfamilienhäusern mit entsprechenden Vorgärten. Dieser Mehrheit möchte ich mich mit dem Festival annähern“, sagt Keller beim Rundgang durch das Arboner Stadtviertel Bergli. 

Ein Ziel seines Festivals sei auch eine Belebung des gesamten Quartiers: „In den Quartieren wird ein Festival-Zentrum installiert, wo sich Abwohnende, Publikum und Kunstschaffende bei Speis und Trank treffen und über die Auftritte austauschen können. Der moderierte Rundgang durchs Quartier startet und endet beim Festival-Zentrum“, so Keller.

 

Idylle oder Hölle? Einfamilienhaus-Siedlung in einem beliebigen Grossstadt-Vorort der westlichen Welt. Bild: Canva

Termine für 2024 stehen fest

Sollte er das Publikum beim Ratartouille-Finale am 7. Juli überzeugen, dann startet die erste Ausgabe des Vorgarten-Festivals im Sommer 2024. Insgesamt fünf Dörfer und Quartiere will er zwischen dem 15. Juni und 24. August 2024 bespielen. Noch stehen die Orte nicht fest, aber Quartiere und Gemeinden, die Spielort werden wollen, können sich bei San Keller melden.

Ebenso will er bei Realisierung des Projektes auch direkt auf einzelne mögliche Standorte zugehen. Kellers Hoffnung mit dem Ganzen: „Neue Sichtweisen und neue Freundschaften entstehen in jedem Garten durch Mut zu Gastfreundschaft und Öffnung“, erklärt der Künstler.

Wie alles, was San Keller anfasst, so ist auch dieses Festival der Vorgärten ein Stück weit eine experimentelle Feldstudie. Den Künstler interessiert, wie es um das Zusammenleben in unserer Gesellschaft steht, wie man Teilhabe organisiert und wie Kultur zu einem offenen Austausch untereinander beitragen kann. Die Erkenntnisse will er in einer Dokumentation bündeln, so dass auch weitere Quartiere das Konzept übernehmen und selbst durchführen können. 

Auch ein Ziel: Künstler:innen-Netzwerk stärken

Neben dem Austausch mit den jeweiligen Quartieren, möchte San Keller auch die verschiedenen Kulturschaffenden miteinander vernetzen: „Gemeinsam auf Tournee zu sein, intensive Festival-Wochenenden miteinander zu verbringen, kann die Verbindung nur stärken“, ist Keller überzeugt.

Insgesamt sei das Projekt auch eine Form der Kulturförderung. Zwei Drittel des geplanten Gesamtbudgets von 150’000 Franken will er entsprechend in Honorare für Künstler:innen, Spesen und Produktionskosten der Festivals einsetzen.

Der Wettbewerb «Ratartouille» und das Finale

Der Wettbewerb: Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau hat „Ratartouille“ vor zwei Jahren erfunden. Damit sollten innovative Veranstaltungsformate gefördert werden. Das Gewinnerprojekt erhält 100`000 Franken von der Kulturstiftung. Ziele des Wettbewerbs sind es neue Ansätze, „die verschiedene Sparten wie Kunst, Musik, Tanz, Literatur miteinander verbinden, das professionelle Kulturschaffen des Kantons Thurgau beleben, Netzwerke über den Kanton hinaus eröffnen sowie experimentellen Charakter haben“ zu unterstützen. Bei der ersten Ausgabe hat das Projekt „Promenaden“ von Richard Tisserand und Reto Müller gewonnen. Mehr dazu gibt es hier.

 

Die Wettbewerber: Drei Projekte wurden für das Finale ausgewählt: San Keller und sein Festival der Vorgärten, Ira Titova und Isabelle Krieg stellen in Kreuzlingen die Frage „Was brauchen wir?“ und suchen so nach neuen Gemeinschaften, sowie „Sijuuu“ von Andreas Müller und Florian Rexer. Das Ziel hier: Gespräche initiieren. Im Zentrum steht dabei ein Bildschirm, den die beiden an verschiedenen Orten im Kanton aufbauen wollen. Auf diesen Bildschirmen sollen „auf bestimmte Kontexte zugeschnittene Theatersituationen“ erzeugt werden. Alle drei Projekte stellen wir bei thurgaukultur.ch vor dem Finale vor.


Das Finale: Insgesamt drei Ideen (siehe oben) treten im Finale gegeneinander an. Es findet statt am Freitag, 7. Juli, ab 17:30 Uhr, im Presswerk Arbon. Dort werden alle Projektinitiator:innen ihre Ideen vorstellen. Am Ende entscheidet das Publikum darüber, welcher Vorschlag die 100’000 Franken der Kulturstiftung erhält. Wer live dabei sein will: Anmeldungen sind noch bis 4. Juli möglich:

 

https://www.kulturstiftung.ch/anmeldung

 

Transparenz-Hinweis: Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau ist eine von zwei Aktionär:innen der gemeinnützigen Thurgau Kultur AG, die thurgaukultur.ch betreibt. Alle Details zur Struktur und Finanzierung von thurgaukultur.ch findet ihr hier.

 

 

 

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