von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 29.11.2021
Der Geschichtenerzähler
Das Schaudepot St.Katharinental ist ein sehr besonderer Ort. Keiner hat ihn so geprägt wie der Historiker und Volkskundler Peter Bretscher. Jetzt geht er in den Ruhestand. Rückblick auf ein Lebenswerk. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Eigentlich gibt es nur eine Regel, wenn man sich mit Peter Bretscher trifft: Man braucht Zeit. Wer den Historiker und Volkskundler in seinem Schaudepot St. Katharinental besucht, der sollte nicht in Eile sein. Sonst verpasst man was.
Für alle, die es nicht wissen: Das Schaudepot, ein Teil des kantonalen Historischen Museums, ist so etwas wie das Gedächtnis des bäuerlichen und ländlichen Lebens im Thurgau. Und Peter Bretscher ist in diesem Bild das Dopamin, dass die einzelnen Teile dieses Gehirns miteinander verbindet und lebendig hält.
Das Erzählprinzip des Schaudepots
Wir treffen uns an einem kalten Oktobertag in Diessenhofen. Bretscher, dunkelblaue Jeans, schwarze Funktionsjacke, empfängt mich fröhlich vor der Tür. Dahinter ist es fast noch kälter als draussen. Das Gebäude ist nicht beheizt. Herzlich willkommen im ländlichen Leben des 19. und 20. Jahrhunderts!
„Schauen Sie mal hier“, sagt der Hausherr und zeigt im ersten Stockwerk auf ein Bündel Reisig zusammengehalten durch einen rostigen Draht. „Was sehen Sie?“, fragt er mich. „Ein paar dünne Äste eingewickelt in einen noch dünneren Draht?“, antworte ich. „Ja, schon“, meint Bretscher.
„Ich konnte hier eine eigene Vision realisieren, das war nicht irgendein Job. Das ist ein Teil von mir.“
Peter Bretscher, scheidender Kurator des Schausdepot St. Katharinental
Aber die eigentliche Geschichte dahinter sei viel grösser. Der Draht sei im späteren 19. Jahrhundert so kostbar gewesen, dass er immer wiederverwendet wurde: „Man hat ihn vor dem Einschieben der Äste in den Ofen entfernt und sorgfältig beiseite gelegt. Es war dann eine wenig beliebte Arbeit der Knaben, die krummen Drähte vor Gebrauch wieder gerade zu klopfen“, erklärt Bretscher.
Und zack ist man bei sehr aktuellen Themen wie Nachhaltigkeit oder Kinderarbeit und dem Leben von Kindern in früheren Zeiten. „Damit kann man dann schnell die Brücke zur Gegenwart schlagen und bekommt eine ganz andere Aufmerksamkeit der Besuchenden“, erzählt der Historiker aus seinen Erfahrungen. Das sei ein Prinzip des Schaudepots: „Wir stellen nicht Objekte aus, sondern Fragestellungen.“
Bretscher hat ein Lebenswerk in 27 Jahren geschaffen
1994 hat Bretscher die Leitung dieses Schaudepots übernommen, und man ahnt im Gespräch sehr schnell, wie es ihm in den vergangenen 27 Jahren gelungen ist, diesen Ort zu dem zu machen, was er heute ist - einer der beliebtesten Erinnerungs- und Erlebnisorte des Kantons: Bretscher liebt seinen Job. Aber jetzt ist bald Schluss. Eigentlich sollte Peter Bretscher schon Ende November in den Ruhestand gehen. Aber er hat angeboten noch ein bisschen länger zu bleiben.
Seine Kuratorentätigkeit endet zwar offiziell am 30. November, für „gewisse Sonderaufgaben“, wie er sagt, bleibe er noch ein paar Monate länger. Gar nicht so einfach loszulassen, wenn man so lange einen Ort so sehr geprägt hat. „Ich konnte hier eine eigene Vision realisieren, das war nicht irgendein Job. Das ist ein Teil von mir“, sagt Bretscher im Café des ehemaligen Dominikanerinnenklosters St. Katharinental.
Video: Ein Tag der offenen Tür im Schaudepot (2019)
Nicht Objekte werden hier ausgestellt, sondern Fragestellungen
Peter Bretscher hatte das Pech und Glück zugleich, dass er zu einem Zeitpunkt zu der landwirtschaftlichen Sammlung kam als der Kanton eigentlich nicht mehr so recht wusste, was damit tun. Die Pläne für ein gross angelegtes „Museum für Bauern- und Dorfkultur“ auf dem Gelände der Komturei Tobel waren im März 1991 bei einer Volksabstimmung krachend gescheitert, sogar die Auflösung der Sammlung stand im Raum. Eine echte Perspektive gab es nicht. Peter Bretscher, der zu dem Zeitpunkt gerade Leiter der Historischen Abteilung am Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen geworden war, sagte trotzdem „Ja“, als man ihn fragte, ob er die Pflege der Sammlung übernehmen wolle. Mit einem Stellenpensum von 4,5 Prozent.
„Für mich war das am Anfang eine Art Freizeitbeschäftigung. Die Sammlung war in einem ziemlich desolaten Zustand, sie war – unter konservatorischen Gesichtspunkten – sehr schlecht untergebracht, aber ich habe schnell gemerkt, dass sie ein grosses Potenzial hat“, erinnert sich Bretscher an seine ersten Tage in der neuen Aufgabe. Als es 1996 die Möglichkeit gab, die bislang über den Kanton zerstreute Sammlung am heutigen Standort zusammenzuführen, erkannte er die Chance, die sich eröffnete.
Der Scherbenhaufen nach der verlorenen Volksabstimmung 1991
Zunächst bezog die Sammlung nur das Dachgeschoss des heutigen Sitzes im früheren Kornhaus des Klosters St. Katharinental, später breitete sich das Schaudepot, das übrigens erst seit 2006 auch offiziell so heisst, im gesamten Gebäude aus. Seine Vision damals: „Die Geschichte des Thurgaus ist von der Landwirtschaft geprägt. Er gilt noch heute als ‚grüner Kanton‘, hiess es in einem damaligen Pressekommuniqué. Aber keines der kantonalen Museen zeigte diesen Aspekt. Das wollte ich ändern“, erklärt Bretscher.
Ganz leicht war das nicht: Die Abstimmungsniederlage von 1991 hallte in der Politik lange nach, es durfte kein neues Museum entstehen, die Räume im Katharinental konnten zwar zu musealen Zwecken genutzt werden, auch Besucherführungen waren gestattet, aber einen regelmässigen Museumsbetrieb mit geregelten Öffnungszeiten sollte es nicht geben. „Keine Werbung, keine Presseberichte und unauffällige Erledigung der Arbeit, so dass die Öffentlichkeit möglichst wenig mitbekam, hiess die Devise“, erinnert sich Bretscher an diese Zeiten.
René Munz und Gabriele Keck erkannten die Chancen im Schaudepot
Ob das nicht seltsam gewesen sei, in einem Museum zu arbeiten von dem kaum einer wissen durfte? Fehlt da nicht was, so ohne Publikum? „Für mich war es okay, ich wusste worauf ich mich eingelassen habe und einen lebendigen bis hektischen Museumsbetrieb hatte ich ja als Kurator am Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen, insofern war diese Arbeit im Stillen eine willkommene Ergänzung“, sagt Bretscher heute.
Das Stillhalteabkommen änderte sich erst in zwei Schritten: 2002 als René Munz das damals neue kantonale Kulturamt übernahm und 2011 als Gabriele Keck Direktorin des Historischen Museums in Frauenfeld wurde. Beide sahen vor allem die Chancen in der Sammlung - das Schaudepot rückte zunehmend ins Licht der Öffentlichkeit.
„Ich weiss von keiner öffentlich zugänglichen, vergleichbaren Sammlung, die in ähnlich enzyklopädischer Weise aufgebaut ist wie die unsere.“
Peter Bretscher, Historiker & Volkskundler
Und heute? 12’000 Objekte umfasst die Sammlung, ein Teil davon wird auf inzwischen vier Etagen im früheren Kornhaus ausgestellt, Bretschers Pensum ist auf 80 Prozent gestiegen, das Schaudepot zählt jetzt offiziell als ein Standort des Historischen Museums. Geregelte Öffnungszeiten gibt es trotzdem weiterhin nicht, aber die Zahl der Führungsbuchungen steigt stetig. An „Tagen der offenen Tür“ strömen die Besucher:innen zahlreich nach Diessenhofen.
Warum eigentlich? „Das Besondere an dieser Sammlung ist zum einen das imposante Gebäude. Es ist eigentlich unser bestes Exponat, das beeindruckt die Besucher:innen immer, wenn sie das erste Mal hier sind. Aber es ist auch eine Gelegenheit, einen Teil unserer Geschichte auf unterhaltsame und anschauliche Weise erleben und begreifen zu können, das mögen die Leute. Und ich weiss von keiner öffentlich zugänglichen, vergleichbaren Sammlung, die in ähnlich enzyklopädischer Weise aufgebaut ist wie die unsere“, sagt Peter Bretscher.
Wenn man so will, dann ist das Schaudepot die steingewordene Antithese zu den heute sonst so beliebten digitalen Museumswelten: Die Aura des historischen Exponats, die Magie des haptischen Objektes, beides wird hier zelebriert. Und diese Objekte leben davon, dass sie jemanden an ihrer Seite wissen, der einfach sehr gut Geschichten erzählen kann.
„Ein Schriftsteller macht aus Wörtern und Sätzen eine Geschichte, ich mache hier aus Objekten und Objektgruppen eine Geschichte.“
Peter Bretscher, scheidender Kurator des Schaudepot St.Katharinental
Am Ende unseres Rundgangs durch das Schaudepot hält Bretscher inne an einem Dachsfell, das an das Zuggeschirr eines Pferdes gebunden ist. Bis weit in das 20. Jahrhundert finden sich solche Felle. Aber dieses hier hat etwas Besonderes - die Pfote ist mit der Handinnenfläche nach aussen aufgebunden.
„Dieses Zeichen dient als universell verständliche Abwehrgeste und sollte böse Geister von Fuhrwerken und Zugtieren fernhalten“, erklärt Peter Bretscher den Kontext. Statt über ein einfaches Fell, reden wir nun über Aberglaube, Irrglauben und das Verhältnis von Mensch und Natur damals und heute. Das vermittlerische Prinzip des Schaudepots ist verblüffend einfach - und wirkt mutmasslich auch deshalb so gut.
Fragt man den Historiker, wie er selbst seine Arbeit als Kurator hier im Schaudepot St. Katharinental beschreiben würde, dann sagt er: „Ein Schriftsteller macht aus Wörtern und Sätzen eine Geschichte, ich mache hier aus Objekten und Objektgruppen eine Geschichte.“ Und das trifft es dann doch erstaunlich präzise. Jedes einzelne Ausstellungsobjekt steht immer für etwas Grösseres dahinter. Jedes Exponat hat seine Geschichte. Und für jede Geschichte findet Peter Bretscher eine Brücke in die Gegenwart.
Wie es jetzt ohne ihn weitergeht? Das Vermittlungsangebot soll ausgebaut werden
Nun übernimmt die Historikerin und Kulturvermittlerin Carmen Aliesch Bretschers kuratorische Arbeit. Er hat sie in den vergangenen Monaten auf den Job vorbereitet und detailliert eingearbeitet. Ideen für die Fortentwicklung gibt es nach wie vor. Der Platz sei im Kornhaus inzwischen weitgehend erschöpft, aber in der Vermittlung könne man das Haus noch ausbauen: „Aktuell haben wir vier Standardführungen im Angebot, auch machen wir Führungen nach Mass oder Wunsch, die Objekte geben aber noch viel mehr her“, findet Bretscher.
Die Geschichten, die dann erzählt werden, werden Geschichten sein, die wohl nicht mehr von ihm erzählt werden. Ende Mai 2022 soll endgültig Schluss sein. Wobei - was heisst schon endgültig? „Wenn es gewünscht wird, stehe ich auch weiterhin für Führungen oder Auskünfte zur Verfügung, aber ich will mich dann nicht mehr ins Alltagsgeschäft einmischen“, sagt Bretscher.
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