von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 23.11.2020
Das grosse Geschrei
Acht Monate nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie in Europa ist der gesellschaftliche Diskurs kaputt. Was wir jetzt tun müssen, um den Schaden zu beheben. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Es ist frustrierend: Vor gerade mal acht Monaten hatte ich noch Hoffnung, dass wir am Ende klüger aus dieser ganzen Corona-Misere heraus kommen. Ich dachte wirklich, dass es uns gelingen könnte, diesen Moment der Vollbremsung zu nutzen, um einige Dinge zu ändern, die wir schon lange hätten ändern sollen, aber immer zu bequem dazu waren.
Und heute? Nichts davon ist eingetroffen, nichts ist besser geworden, die Erkenntnis ist auf der Strecke geblieben. Pflegepersonal wird noch immer schäbig bezahlt, Populisten werden nach wie vor gewählt, der Kapitalismus läuft wieder wie am Schnürchen und der gesamte gesellschaftliche Diskurs ist vollkommen im Eimer. Die Fronten sind verhärtet, wir tauschen uns nicht aus, wir brüllen einander weiter an. Lauter denn je.
Warum müssen immer die Klügeren nachgeben?
Vor vier Monaten hätte ich an dieser Stelle vermutlich noch so was geschrieben wie: Man muss miteinander im Gespräch bleiben, Empathie zeigen, aufeinander zugehen. Allmählich verliere ich den Glauben an diese Strategie. Sie funktioniert nämlich nicht als Einbahnstrasse.
Der Diskurs wird im Kern getroffen, wenn lange als selbstverständlich gedachte Grundannahmen erodieren. Mit anderen Worten: Wenn nicht mal klar ist, dass man zwar eine eigene Meinung, aber keine eigenen Fakten haben kann - wie soll man da noch ernsthaft diskutieren?
Offen gesagt, bin ich müde davon, immer für jeden Unsinn Verständnis haben zu müssen. Jedem Krakeele, zuhören zu müssen. Nein, eigentlich bin ich nicht nur müde. Ich bin wütend.
Warum ich wütend bin. Sehr wütend.
Wütend vor allem auf die Scheinheiligkeit der Coronaleugner-Bewegung, die regelmässig gegen die moderne Demokratie hetzt und gleichzeitig den funktionierenden Rechtsstaat jederzeit für sich beansprucht. Wütend auf die dreiste Schamlosigkeit dieses Bündnisses, sich mit Opfern des Nationalsozialismus zu vergleichen und sich auf eine Stufe mit echten Revolutionen wie jenen in Minsk oder der früheren DDR zu stellen.
Wütend auf die geschichtsvergessene Widersprüchlichkeit einer Vereinigung, die ernsthaft und immer wieder demokratische Führer mit Diktatoren vergleicht und gleichzeitig sehr verknallt ist in echte Autokraten wie Wladimir Putin oder Donald Trump.
Anstandslosigkeit, Egoismus, Selbstgefälligkeit und pubertäre Trotzigkeit kommen aufs Hässlichste in dieser Bewegung zusammen.
Und trotzdem wird die zunehmende Radikalisierung der Querdenker und Coronaleugner noch immer mit der beschwichtigenden Formel des besorgten Bürgers ummäntelt. Dabei ist die Bewegung längst von Rechtsextremen unterwandert und instrumentalisiert.
Frage: Kann es sein, dass wir gerade erleben, was passiert, wenn immer die Klügeren nachgeben?
Wer mit Nazis marschiert, verspielt jedes Verständnis
Bitte nicht falsch verstehen: Ich habe Verständnis für jeden Kulturschaffenden, der um seine Existenz bangt. Ich verstehe jeden Gastronomen, der nicht weiss wie weiter. Und ich verstehe Familien, die sich in der Krise vergessen und allein gelassen fühlen vom Staat.
Kein Verständnis hab ich allerdings für all jene, die sich mit der Querdenker-Bewegung solidarisieren. Ich habe die Querdenker-Parade in Konstanz gesehen und war entsetzt. So vielfältig diese Bewegung auch ist, so einfach ist doch die grundsätzliche Beurteilung: Wer mit Nazis, Reichsbürgern und QAnon-Gläubigen auf die Strasse geht, hat jedwedes Verständnis verspielt. Meins jedenfalls.
Warum wir wieder mehr Regeln für den Diskurs brauchen
Muss eine Gesellschaft alles tolerieren? Ich finde nein.
Lügen dürfen kein schulterzuckend akzeptiertes Instrument der Politik werden. Meinungsfreiheit gibt es nicht exklusiv. Beleidigungen sind keine Argumente. Selbstgerechtigkeit macht einen nicht zum Widerstandskämpfer. Der gesunde Menschenverstand ist nicht schlauer als die Wissenschaft. Hetze und persönliche Verunglimpfungen sind keine gerade noch so erlaubten Mittel im politischen Meinungsstreit. Sie vergiften das gesellschaftliche Klima und müssen mit aller Härte bestraft werden.
Demokratie braucht Streit, aber auch Konsens
Wir müssen wieder klare Regeln im Miteinander finden. Wir müssen wieder Grenzen definieren, was geht und was nicht geht. Und zwar am besten in einem demokratischen Prozess, an dem sich jeder beteiligen kann. Tun wir das nicht, landen wir eher früher als später in einem gesellschaftlichen Klima, das wir schon heute in den USA beobachten können. Das kann keiner wollen.
Ja, Demokratie braucht den Streit, aber ebenso braucht sie den Konsens. Es wird Zeit, dass das alle wieder respektieren.
Mehr zum Thema: Auch YouTube-Star Rezo hat sich mit dem Thema befasst
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