von Tobias Rüetschi, 05.03.2018
Crimer oder: Wie der Retrokult Halt in Frauenfeld machte
Kunstfigur und solider Musiker: Swiss Music Award-„Best Talent“ Crimer stellte am Samstagabend im Eisenwerk in Frauenfeld sein Debut-Album vor.
Von Tobias Rüetschi
Würde sich per Zufall ein Zeitreisender in unsere Zeit verirren, dann würde ihm ein Blick in die heutige Ostschweizer Kulturlandschaft keine Klarheit verschaffen, in welchem Jahrzehnt er sich gerade befindet: Während in dunklen Kellern immer noch zu wildem Drum'n'Bass getanzt wird, als hätten die 90er-Jahre nie geendet, übertreffen sich in verrauchten DIY-Klubs Garage-Rockbands mit Riffs, bei denen Jimmy Page vor Neid erblassen würde. Aber auch der Blick über den Ostschweizer Tellerrand verschafft keine Klarheit: Im Kino laufen Fortsetzungen von 80er-Klassikern wie Jurassic Park, Star Wars und dem dystopischen Scifi-Blockbuster Blade Runner, wo auch im Filmsoundtrack fröhlich die Roland-Synthesizer und 808-Drummachines dudeln.
Die Musik der Neon-Dekade ist wieder voll im Trend und Swiss Music Award-„Best Talent“ Crimer ist in der Schweizer Popmusiklandschaft momentan der Spitzenreiter dieser Welle. Der stilsichere Rheintaler, der früher unter dem Namen Batman die kleineren Clubs der Schweiz bespielte, bevor DC Comics mit einem Rechtsstreit drohte, stellte am Samstagabend im Eisenwerk in Frauenfeld sein Debut-Album vor. Statt als Solokünstler mit Playback, wie er das bis vor kurzem noch gemacht hat, ist er nun mit Band unterwegs. Die zwei Gitarren, die live gespielt werden, geben dem elektronischen Sound etwas mehr Tiefe und drei Musiker harmonieren so zusammen, als ob sie wirklich schon seit den 80ern zusammen spielen würden.
Dieses Mal mit Band auf der Bühne: Der Swiss Music Award "Best Talent" Crimer bei seinem Auftritt im Eisenwerk. Bild: Tobias Rüetschi
Energetische Performance
Trotz der neuen Bandbesetzung lässt Crimer aber keinen Zweifel aufkommen, dass er der Star der Konstellation ist. Schon nach dem ersten Song glänzen die Schweissperlen auf seiner Stirn, denn der 27-jährige Showman schwingt das Tanzbein und scheut keine Posen. Manchmal penibel choreographiert, dann wieder völlig wild und zügellos, aber es wirkt nie lächerlich oder plump, wie sich der Rheintaler auf der Bühne abmüht. Seine zwei Bandmitglieder bleiben meist cool und leider springt der Funke auch nicht ganz auf das Publikum über: Statt wild getanzt werden Handys gezückt, nur vereinzelt fühlen sich Zuhörer durch die Retro-Überdosis in ihre Jugend zurückversetzt und lassen sich zur Musik gehen, beim Hit „Brotherlove“ scheint das Publikum kurz aufzuwachen und es erklingt sogar ein kurzes Mitklatschen im Takt. Crimer, mit bürgerlichen Namen Alexander Frei, lässt es sich aber nicht nehmen, zwischen den Stücken mit dem Publikum zu flirten und seinen Ostschweizer Charme spielen zu lassen. Wie viele junge Männer kennt er Frauenfeld nur aus dem Militär, was natürlich Steilvorlage für viele seiner Witze ist.
Video: So klingt Crimer
Vorbilder aus Übersee
Musikalisch geht Crimer auf seiner neuen Platte in der selben Richtung weiter, die er mit seiner EP „Preach“ aus dem vergangenen Jahr eingeschlagen hat: Solide und tanzbare, Synthesizer-lastige Popsongs die er mit seiner tiefen Stimme mit hohem Wiedererkennungswert vorträgt. Die Arrangements wirken etwas ausgereifter als auf seiner Debut-EP und strotzen vor energetischen Hooks und Ohrwurm-Refrains. So gut die Songs auch komponiert sind, sind die Vorbilder und Einflüsse aus Übersee leicht zu erkennen: Neben den klaren musikalischen wie stimmlichen Parallelen zu den Genre-Überhelden Depeche Mode erinnert Crimers Tanzwut zur 80er-Jahre Synthesizermusik sehr an die exzentrischen und Performance-artigen Liveshows des singenden Philosophieprofessor und Szenegrösse John Maus. Auch der Sound des Supportacts MoreEats, der gleichzeitig auch Gitarrist in Crimers Band ist, erinnert mit seinem Chorus-getränkten Gitarrensound und den mit Augenzwinkern vorgetragenen Texten sehr an Indie Revivalacts wie Mac DeMarco oder Connan Mockasin. Das Ganze ist symbolisch für die Schweizer Musikszene – wer hier nach Innovation sucht, findet diese meist nicht bei den Acts, die es auf den SRF3-Olymp schaffen. Meist hinkt die „Szene“ den internationalen Trends ein paar Schritte nach, meist wurde die selbe Musik schon irgendwo gemacht, oftmals auch mit mehr Mut zu Experimenten.
Kunstfigur Crimer
Crimers Erfolg ist aber nicht nur auf den aktuellen 80er-Jahre Trend zurückzuführen. Der junge Musiker beherrscht sein Handwerk und weiss, wie man sich verkauft. Bei ihm ist man sich nicht sicher, wo Alexander Frei aufhört und die Kunstfigur Crimer anfängt. So war er sich auch nicht zu schade, für die Cover-Story der Schweizer Illustrierten zu posieren – etwas, dass man sich beispielsweise bei Altersgenosse Faber überhaupt nicht vorstellen könnte. Crimer will ein Pop-Star sein, wie es ihn nur in den 80ern gegeben hat und schafft sich mit seinen Videos und seinem Auftreten eine eigene Welt, wo das auch möglich zu sein scheint.
Lässt keinen Zweifel daran, wer hier der Star auf der Bühne ist: Crimer bei seinem Auftritt in Frauenfeld. Bild: Tobias Rüetschi
Von Tobias Rüetschi
Weitere Beiträge von Tobias Rüetschi
- Ein umtriebiges Duo (29.08.2019)
- Ein Strassenmusiker erobert die Bühne (27.05.2019)
- Neue Töne von Lina Button (25.04.2019)
- Auf dem Weg zum HipHop-Erlebnispark (08.07.2018)
- Düstere Klänge für lange Autofahrten (27.09.2017)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Musik
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Pop
Kulturplatz-Einträge
Ähnliche Beiträge
Noëlles Klanggeschenk
Weihnachten mit zeitgenössischer Musik: O du fröhliche Disharmonie? Von wegen. Das “Concert de Noëlle No.2 im Kunstraum Kreuzlingen war wunderlich wundersam. mehr
Harter Sound mit viel Liebe zum Detail
Seit fünf Jahren arbeitete die Frauenfelder Band Haile Selacid an ihrem Debütalbum, das Anfang November erschien. Es begeistert mit einem innovativen Mix aus Heavy Metal, Black Metal und Punk. mehr
«Eine Knochenarbeit, die mich bereichert!»
Wie wir arbeiten (4): Andrin Uetz ist unser Experte für Pop- und Jazzmusik. Hier beschreibt er nach welchen Kriterien er Projekte bewertet und was das mit seiner eigenen Erfahrung zu tun hat. mehr