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von Inka Grabowsky, 21.12.2023

Der lange Weg zum aufrechten Gang

Der lange Weg zum aufrechten Gang
Ein Vater-Sohn-Konflikt als Wurzel allen Übels. (Jean Loup Fourure und Stefan Gritsch) | © Inka Grabowsky

Die Premiere von Florian Rexers „Glöckner von Notre Dame“ in Amriswil wurde begeistert aufgenommen. In das Spektakel mit Akrobaten, Gesang, Tanz und Fecht-Szenen hat der Regisseur philosophische Fragen eingebaut. Vor allem: Wann wird Schutz zur Freiheitsberaubung? (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Fast jeder der Premierengäste hat schon vor der Vorstellung ein Bild von Quasimodo im Kopf. Eine Dame räumt ein, Wikipedia konsultiert zu haben. Ein Herr gibt unumwunden zu, dass er nur die Disney-Variante kennt. Die meisten erinnern sich an Anthony Quinn im Hollywoodfilm von 1956. 

«Ich habe den als Kind im Fernsehen gesehen», sagt Georgette Seitz. «Er war ganz schön gruselig». Ihre Mutter Hilde Meyer kann stolz vermelden, dass sie das Original kennt. Vor siebzig Jahren habe sie den Roman von Victor Hugo gelesen. «Ich war damals in einem Buchclub und froh so etwas Gutes zu bekommen.» 

Nun, der Quasimodo, den Schauspieler Stefan Gritsch verkörpert, unterscheidet sich von allen Vorbildern. Sein Glöckner ist weder hässlich noch körperlich beeinträchtigt, sondern seelisch gebrochen durch seine Isolation im Glockenturm von Notre Dame. Anfangs macht er sich klein, um nicht aufzufallen. Erst zum Ende des Stücks kann er sich zur vollen Grösse aufrichten. 

 

Stefan Gritsch gibt einen sich emanzipierenden Quasimodo. Bild: Inka Grabowsky

Psychologische Deutung

Quasimodos Peiniger, der Richter Claude Frollo, ist sein leiblicher Vater. Er kann den Sohn nicht lieben, weil er die Liebe seiner Frau nie hatte mit Kindern teilen wollen. Als die Frau dann auch noch kurz nach der Geburt starb, wuchs sein Hass auf das überlebende Kind. Es wird zwar am Leben erhalten und religiös unterrichtet, aber von der Welt ferngehalten. Jean Loup Fourure spielt den Egomanen mit viel düsterer Energie als Bösewicht, wie er im Buche steht. 

Doch gelegentlich klingt etwas an, was alle Eltern betrifft und was deshalb das Theaterstück vom unterhaltsamen Spektakel zum Gedankenanstoss macht: Frollo macht sich Sorgen, Quasimodo würde in der Welt «da draussen» nicht bestehen. Den Turm der Kathedrale hält er für eine sichere Zuflucht für den naiven Sohn, nicht für ein Gefängnis. 

Das berührende Chanson «Je vole», vorgetragen nach der Pause, unterstützt die Deutung der schwierigen Vater-Sohn-Ablösung. «Mes chers parents - je pars. Je vous aime mais je pars.» (Liebe Eltern, ich gehe. Ich liebe euch, aber ich gehe.) 

 

Atmosphärische Inszenierung in Amriswil. Bild: Christian Schroff

Der «Glöckner» als Entwicklungsroman

Wie in allen «Coming of Age»-Geschichten seit Eschenbachs «Parzival» ist es ein Anstoss von aussen, der Veränderung und Wachstum einleitet. Im Rexers «Glöckner» ist es die neu eingeführte Figur des Strassenjungen Cedric, souverän gespielt vom jugendlichen Amateur Fynn Lanter. Cedric freundet sich mit Quasimodo in der Kirche an und macht ihm Mut zur Flucht. 

Und natürlich spielt die erwachende Sexualität Quasimodos eine Rolle in seinem Aufbegehren, entzündet an der schönen Esmeralda. Anja Brühlmann gibt sie weniger als Femme fatale, die im Original allen Männern bewusst den Kopf verdreht, sondern als freiheitsliebende Beschützerin der Strassenkinder mit rigider Sexualmoral. Hauptmann Phoebus (Simon Schroff) weist sie schlagfertig ab, weil er schliesslich bereits verlobt ist – und dass, obwohl er sich gerade als rettender Held erwiesen hat. 

 

Quasimodo und Esmeralda. Bild: Christian Schroff

 

Ordnende Hand im Chaos der Gefühle ist die dazugedichtete «Schwester Jeanne». Sie hat Quasimodo in Notre Dame an Mutterstelle grossgezogen und lässt ihn schliesslich in die Welt ziehen, um Abenteuer zu erleben. Deborah Loosli bekommt für ihre Darstellung der resoluten und herzensguten Frau mit Schweizer Wurzeln bei der Premiere donnernden Applaus. Sie ist es schliesslich auch, die sprachlich immer wieder aus ihrer Rolle als Ordensfrau fällt und dabei für Lacher sorgt. Ihre herzhaften Flüche im Gotteshaus mit anschliessender Bitte um Vergebung werden zum Running Gag. 

Amateure neben Profis

Florian Rexer inszeniert gerne mit Kindern und Jugendlichen. Für den «Glöckner» hat er neben Fynn Lanter noch 16 weitere Teenager ins Ensemble geholt, die Strassenkinder, lebendige Wasserspeier oder eine Schweizer Schulklasse darstellen. Die jungen Akrobatinnen von «Co-Dance» avancieren mit ihrer Körperbeherrschung zu Publikumslieblingen. 

Allerdings muss man einräumen, dass alle Darstellenden die Choreografien von Evelyn Funkhouser gründlich eingeübt haben. Die Fest- und Tanzszenen sind beeindruckend, ebenso wie die Kampfszenen, die Jean Loup Fourure choreografiert hat. 

 

erfekt choreografierte Kampfszenen lassen auch bei Action-Fans keine Langeweile aufkommen. Im Mittelpunkt Simon Schroff als Phoebus. Bild: Inka Grabowsky

 

Eine Sonderrolle spielt das Bühnenbild, das Krattiger Holzbau so gefertigt hat, dass es das Ensemble auf seinen vier Spiel-Stationen bis Mitte März begleiten kann. Zwei hölzerne Gerüste lassen sie so verändern, dass die Zuschauer problemlos darin das Innere der Turmstube oder den Platz vor der Kathedrale erkennen. 

«Es war ein schöner Abend», resümiert Regierungsrat Dominik Diezi nach den zweieinhalb Stunden. Niemand kann ihm da widersprechen. 

 

Florian Rexer (mit Schal) erntet mit seinem gesamten Ensemble stehende Ovationen. Bild: Inka Grabowsky

 

Tickets und weitere Aufführungen

Kulturforum Amriswil
28. Dezember 2023, 20:00 Uhr; 29. Dezember 2023, 20:00 Uhr; 30. Dezember 2023, 15:00 Uhr

Eisenwerk Frauenfeld
19. Januar 2024, 20:00 Uhr; 20. Januar 2024, 20:00 Uhr; 21. Januar 2024, 15:00 Uhr

Trauben-Saal Weinfelden 
23. Februar 2024, 20:00 Uhr; 24. Februar 2024, 20:00 Uhr; 25. Februar 2024, 15:00 Uhr

Dreitannen-Saal Sirnach
15. März 2024, 20:00 Uhr; 16. März 2024, 20:00 Uhr; 17. März 2024, 15:00 Uhr

Tickets für alle Aufführungen gibt es über die Website der Produktion.

 

 

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