von Maria Schorpp, 09.05.2023
Lucias Bürde

Das feministische Kollektiv „der grosse tyrann“ zeigt vom 12. bis 14. Mai in der Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld „Abgesang auf Lucia Joyce – eine Wahnsinnsarie“. (Lesezeit: 4 Minuten)
„Wenn sie ihr Talent erst einmal voll ausgeschöpft hat, werden wir James Joyce vielleicht nur noch als den Vater seiner Tochter kennen.” Das war 1928 in der Paris Times zu lesen und bezog sich auf den Tanz von Lucia Joyce, besagter Tochter des Autors solch prägender Werke wie „Ulysses“ oder „Finnegans Wake“.
In den 1920er Jahren tourte sie mit ihrem avantgardistischen Kollektiv „Rainbow Girls“ erfolgreich durch Europa. Aber es kam anders als die Kritik, wenn vielleicht auch etwas überspitzt, mutmasste. Ganz anders. Weil Lucia Joyce ihr Talent tatsächlich nicht ausschöpfen konnte. Sie wurde zum blinden Fleck in der Biografie ihres Vaters.
Eine laute weibliche Stimme
Das Kollektiv „der grosse tyrann“ hat mit „Abgesang auf Lucia Joyce – eine Wahnsinnsarie“ eine vielgestaltige Performance erarbeitet, um der Person und Künstlerin Lucia Joyce wieder ein Gesicht zu geben. Wie das Kollektiv überhaupt aus der weiblichen Perspektive Protagonistinnen aus dem Vergessen holen wollen.

Hinter dem imposanten Namen stehen Liliane Koch und Maude Hélène Vuilleumier – die eine Dramaturgin, die andere Kostüm- und Bühnenbildnerin –, die sich 2012 zusammengetan haben, um „in einer männlich dominierten Szene eine laute weibliche Stimme (zu) erheben“, wie sie über sich selbst schreiben.
Auf Lucia Joyce (und weitere Frauen) sind sie im Zuge einer Recherche über Frauen getroffen, die im 19. Jahrhundert in der Schweiz in der Psychiatrie landeten. Und es zeigte sich: Viele waren zuvor angeeckt, hatten gegen die Normen der weiblichen Rolle verstossen. So auch Lucia Joyce Anfang des 20. Jahrhunderts.
„Wir haben uns in die Kraft der Reimagination hineinbegeben und versucht, mit allen unseren Disziplinen Lucia Joyce für uns nachvollziehbar zu machen.“
Liliane Koch
„Ihre Lebensgeschichte ist exemplarisch für eine Frau, die selbst mit grosser Ausdruckskraft künstlerisch praktiziert, aber von den männlichen Figuren ihrer Umgebung sehr überschattet wird. Bis dahin, dass sie völlig in Vergessenheit gerät“, fasst Liliane Koch zusammen.
Der Vorname Lucia und seine fatale Bedeutung
Hilfreich bei der Entdeckung der Tänzerin mit der grossen Begabung und einer über 40-jährigen Psychiatriegeschichte war der hundertste Geburtstag des „Ulysses“ im Jahr 2022, ein Jubiläum, das auch in Zürich gefeiert wurde, wo über die Hälfte des Romans entstand. Tatsächlich kam die Familie Joyce 1915 von Triest nach Zürich, Lucia war sieben, ihr Bruder Giorgio zehn.
Dass beide Kinder italienische Vornamen trugen, hatte mit der grossen Affinität des Vaters für Italien zu tun, bei Lucia hatte es jedoch noch eine Zusatzkomponente, die wohl eine fatale Bedeutung in ihrem Leben annahm. Sie wurde nach der Hauptfigur in James Joyce‘ Lieblingsoper „Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti benannt.

In der Performance des Kollektivs wird gleich am Anfang ein voluminöses Opernkleid an die Bühnendecke gezogen, wo es die gesamte Vorstellung hinweg bleibt. Maude Hélène Vuilleumier erklärt das so: „Es hängt über dem Stück wie die Bürde, die Lucia aufgetragen wurde, indem James Joyce sie nach Lucia di Lammermoor benannt hat, die ‚wahnsinnig‘ wurde. Dann ist ihr dasselbe passiert. Allerdings weiss man nicht, ob sie nach heutigen Massstäben als psychisch krank diagnostiziert werden würde.“
Begleitet wird die Kleid-Szene von der „Wahnsinnarie“, die Lucia di Lammermoor vor ihrem Tod singt. Für James Joyce war seine Tochter nicht psychisch krank, sondern die Erbin seines eigenen Genies.
Abkehr vom Bild des genialischen männlichen Künstlers
Wobei die beiden Frauen vom Kollektiv mit dem Mythos von Genie und Wahnsinn nichts anfangen können. „der grosse tyrann“ versteht sich auch als „Abkehr von dem patriarchalen Bild des genialischen männlichen Künstlers, der völlig unberührt von äusseren Einflüssen aus sich heraus ein Meisterwerk erschaffen kann“, wie Maude Hélène Vuilleumier es ausdrückt.
„Das Kleid hängt über dem Stück wie die Bürde, die Lucia aufgetragen wurde, indem James Joyce sie nach Lucia di Lammermoor benannt hat, die ‚wahnsinnig‘ wurde.“
Maude Hélène Vuilleumier
Im Kollektiv wird auf Augenhöhe gearbeitet, den Regieposten gibt es nicht, das gilt auch für die hinzu engagierten Künstler:innen. Für die Lucia Joyce-Produktion sind das auf der Bühne die Schauspielerin Wanda Wylowa, der Opernsänger Niklaus Kost und der Tänzer Simon Fleury.
Alle persönlichen Dokumente wurden vernichtet
„Wir begeben uns mit diesem Theaterabend auf Spurensuche“, sagt Liliane Koch, die für die Produktion im Psychiatrie-Museum Bern recherchiert, Gespräche mit Psychiater:innen geführt und vor allem viel Zeit in Bibliotheken verbracht hat. Die Performance ist auf Stimmen Dritter angewiesen, da es so gut wie keine Originaldokumente von Lucia Joyce mehr gibt, weder Briefe noch Krankenakten.
Der Sohn von Bruder Giorgio, der den Nachlass von James Joyce verwaltete, führte möglicherweise die Fehde der beiden Geschwister fort und vernichtete die persönlichen Dokumente von Lucia, um vermeintlich das Ansehen der Familie zu wahren.
Die andere Seite davon ist, dass auf diese Weise die beherzte Produktion „Abgesang auf Lucia Joyce – eine Wahnsinnsarie“ entstanden ist. „Wir haben uns in die Kraft der Reimagination hineinbegeben und versucht, mit allen unseren Disziplinen Lucia Joyce für uns nachvollziehbar zu machen“, sagt Liliane Koch.
Gesang, Tanz, Texte von James Joyce, aber auch von ihren beiden Quellen, der Biografie „To Dance in the Wake“ der Literaturwissenschaftlerin Carol Loeb Shloss und dem Roman „The Joyce Girl“ von Annabel Abbs.
„In liebevoller Erinnerung“
Lucia Joyce starb 1982 in einer psychiatrischen Einrichtung in Northampton, wo sich eine Mäzenin ihres Vaters um sie kümmerte. Von dessen Tod 1941 in Zürich hat sie aus der Zeitung erfahren. Weder Mutter noch Bruder kümmerten sich um sie. Samuel Beckett, mit dem sie eine kurze, für sie fatal endende Beziehung hatte, legte eine Karte auf ihr Grab: „In liebevoller Erinnerung“.
Die vielgestaltige Performance gibt der vergessenen Künstlerin und Tochter von James Joyce ein Gesicht und beleuchtet das Verhältnis von Patriarchat und Psychiatrie.

Von Maria Schorpp
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