von Inka Grabowsky, 27.04.2016
Das zweite Drittel Shakespeare
Inka Grabowsky
Nach „Shakespeare auf Mostfahrt“im Februar hatte nun der zweite Teil des Thurgauer Shakespeare Projekts Premiere. „Wir sind Shakespeare“ versetzt Romeo und Julia ins Hier und Jetzt. Nach Romanshorn und Frauenfeld.
Shakespeare und Standortmarketing
„Storytelling“ heisst die Methode in der Betriebswirtschaftslehre: Ein Produkt verkauft sich besser, wenn man den Kunden eine Geschichte dazu liefert. Mit Tourismus-Destinationen ist das nicht anders. Was wäre Bremen ohne seine Stadtmusikanten, Maienfeld ohne Heidi oder Verona ohne Romeo und Julia! Dem Thurgau fehlt eine solche Identifikationsfigur noch, konstatiert Oliver Kühn in seinem Stück „Wir sind Shakespeare“. Der Schauspieler, Regisseur und Gründer des „Theater Jetzt“ in Sirnach war von „Kultur im Eisenwerk“ angefragt worden, beim ganzjährigen Projekt zu Shakespeares 400. Todestag mitzumachen. „Ich hatte aber keine Lust, den Text wieder 1:1 auf die Bühne zu bringen. Stattdessen wollte ich den Thurgau mit Shakespeare zusammenbringen und bin so auf die Frage nach dem Selbstbewusstsein, dem Selbstverständnis und dem Standortmarketing gekommen.“ Kühn schuf deshalb eine neue Fassung von „Romeo und Julia“, die grossen Unterhaltungswert hat.
Liebesschwur von Corina Keller als Julia und Emir Redjepi als Romeo. Bild: Inka Grabowsky
Wahrscheinlich ist keines der Shakespeare-Stücke schon so oft an andere Schauplätze verlegt worden. Liebende, die von ihren hassenden Familien ins Unglück gestützt werden, gibt es „auf dem Dorfe“ oder auf der New Yorker „Westside“ ebenso wie in Verona. Natürlich passt Romeo auch nach Romanshorn, zumal wenn er von einem temperamentvollen Schauspieler mit Migrationshintergrund verkörpert wird. Die Ablehnung durch Julias Eltern wird umso glaubwürdiger. Neu an Kühns Version ist die Instrumentalisierung der romantischen Geschichte für Marketing-Zwecke. Bei ihm will ein Unternehmensberater - verkörpert durch Kühn selbst - das Leid von Romeo und Julia vermarkten. Hier wird das Drama zur Gesellschaftssatire. Alles ist gut, solange es Profit bringt. Kein Wunder, dass es dem Original-Dichter zu bunt wird und er als Geist (wie einst Hamlets Vater) seinen Nachfolger zur Ordnung ruft.
Das missbrauchte Theater
Dabei empfindet Oliver Kühn im wirklichen Leben tiefsten Respekt für William Shakespeare. „Shakespeare war genial. Seine Themen sind Sex und Crime, weil in seiner Zeit die Leute einfach weggegangen sind, wenn ein Stück sie nicht gepackt hat. Er wusste intuitiv, womit er die Zuschauer kriegt.“ Heutige Theaterautoren hätten einiges von dieser Empathie eingebüsst. „Ich verstehe die Jugendlichen, die nicht mehr ins Theater wollen. Sie werden doch heute in Stücke geschleift, in denen es um Drogen oder Mobbing geht. Wahlweise müssen sie die Klassiker ansehen, weil es Matura-Stoff ist.“ Von einer Fehlentwicklung spricht Kühn. Das Theater werde auf diese Art missbraucht. „Wir setzen dagegen auf Shakespeare, der jung, spritzig und frech ist. Bei dem geht die Post ab.“
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art-tv.ch: Thurgau im Shakespeare-Fieber
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Nächste Aufführungen im Theater im Eisenwerk Frauenfeld
Do 28. / Fr 29. / Sa 30. April 2016
So 1. / Mo 2. / Di 3. / Derniere Mi 4. Mai 2016
jeweils 20 Uhr, Sonntags 17 Uhr
Was bleibt...
William Shakespeare hätte gegen die Frauenfelder Aufführung bestimmt nichts gehabt. Die Schauspieler - egal, ob Laie oder Semi-Profi - verkörpern ihre Rolle mit Leidenschaft und arbeiten auch in den Chorszenen mit bewundernswerter Präzision. Der Theatermacher und Stückschreiber Oliver Kühn lässt sie manches grosse Wort gelassen aussprechen. Er mutet dem Publikum nach der Pause aber auch Neues zu. Wenn der Zuschauerraum zur Bühne wird, kann man sich nicht mehr in der bequemen und bekannten Rolle des Kulturkonsumenten zurücklehnen.
Es braucht tatsächlich etwas Mut mitzuspielen. Das kann nicht jedem gefallen. Es erfüllt aber seinen Zweck. Der Besuch der Aufführung wird zum Erlebnis, das Kühn gezielt steuert. Er bleibt sich thematisch treu: „Customer Experience Management“ ist ebenso wie das „Storytelling“ im modernen Marketing unverzichtbar. Seltsam nur, dass in seinem Stück die Manager, die diese Methoden anwenden, so schlecht wegkommen. Schimpfen auf die Wirtschaft gehört in der Kulturszene wohl zum guten Ton. (inka)
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Von Inka Grabowsky
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