von Inka Grabowsky, 06.03.2025
Was es mit dem Hungertuch wirklich auf sich hat

Wer am Hungertuch nagt, dem geht es ganz besonders schlecht. Denkt man. Die urspüngliche Bedeutung eines Hungertuches ist aber eine andere. Das zeigt ein Beispiel aus Münsterlingen. Das Hungertuch in der dortigen St. Remigius-Kirche erzählt von der Wiederauferstehung Christi, von der Glaubenskultur vor 460 Jahren und von der Entstehung einer Redewendung. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
In der Fastenzeit wird Verzicht geübt – so weit, so logisch. Wer von Fasnacht bis Ostern kein Fleisch isst, keinen Alkohol trinkt oder keine Süssigkeiten nascht, tut seinem Körper und seiner Seele etwas Gutes. Das ist seit etwa zweitausend Jahren in der christlichen Welt so üblich.
Nun kann man aber in der Fastenzeit nicht nur auf leibliche Genüsse verzichten, sondern auch auf akustische (kein Gesang) und optische. Und deshalb hat die Kirche im Mittelalter das Hungertuch erfunden. Das Tuch erinnert an den Vorhang, der die Bundeslade verhüllte und der nach biblischer Schilderung nach der Kreuzigung zerriss. Es verdeckt bis zur Feier der Wiederauferstehung die prachtvollen Altäre. Bunte Bilder und goldene Skulpturen sollen bis dahin keine Augenweide bieten.
Ein Musterexemplar in Münsterlingen
In der reformierten Kirche gibt es weniger Pracht. Folgerichtig ist das Hungertuch nach der Reformation aus der Mode geraten. Und in der Gegenreformation setzte die katholische Kirche geradezu auf anschauliche Bilder, um sich von den üblen Bilderstürmern abzusetzen. Insofern erzählt das Hungertuch in der Klosterkirche von Münsterlingen nicht nur biblische, sondern auch Zeit-Geschichte.
Es entstand 1565, also 16 Jahre, nachdem das verwaiste Kloster wieder mit drei Benediktinerinnen belebt worden war. «Damals stand das Stift noch unten am See auf der Landzunge» erklärt der Lokalhistoriker Wolf-Dieter Burkhard, der eine Broschüre zum Fastentuch verfasst hat. «Die Kirche, die Anfang des 18. Jahrhunderts abgerissen wurde, hatte eher bescheidene Ausmasse. Insofern reichte das 2,25 Meter mal 2,40 Meter kleine Leinenstück wohl aus, um das Altarbild abzudecken.»
Um den Altar in der heutigen barocken Klosterkirche zu verhüllen, müsste ein Tuch mindestens sechs mal acht Meter gross sein. Das Kunstwerk hängt also an der Wand neben dem Altar, von hinten mit einer Isolation gegen Feuchtigkeit geschützt, so dass die Temperafarbe noch etwas länger auf der Leinwand hält.

Es gibt viel zu sehen auf dem Tuch
Das Hungertuch bietet selbst ordentlich was fürs Auge. Sollte sich ein Gottesdienstbesucher in der Fastenzeit gelangweilt haben, konnte er die Blicke schweifen lassen und sich aus den Bildelementen die Leidensgeschichte Jesu zusammenreimen. Zu den Betrachtern gehörten nicht nur fromme Frauen: «Zur Entstehungszeit des Bildes wurde die Kirche von allen Gläubigen genutzt, also von den Nonnen, den wenigen Katholiken der Gegend und von den Reformierten aus Bottighofen und Scherzingen», so Wolf-Dieter Burkhard.
Sie alle meditierten zu den Nägeln, die für das Schlagen ans Kreuz nötig waren, oder zu den Würfeln, mit denen die Soldaten um Jesu Kleidung spielten. «Die Werkzeuge wie der Zimmermannshammer sind unglaublich detailgetreu gemalt», so Burkhard. «Der Künstler verstand sein Handwerk.»
Die Waschschüssel erinnert an den von Pilatus kolportierten Spruch «Ich wasche meine Hände in Unschuld». Der Hahn mit einem Schlüssel in der Kralle erzählt von der Verleugnung durch Petrus und seiner späteren Aufgabe als Wächter des Himmelstores. Verräter Judas ist mit einem Geldbeutel zu sehen. «Er hat das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, dagegen sieht Jesus überaus freundlich aus.»
Stich von Dürer wohl als Vorbild
Im Mittelpunkt des Münsterlinger Tuches steht – im wahrsten Sinn des Wortes – Jesus. Bis auf seine unnatürliche Blässe ist er wohlbehalten und eher muskulös als asketisch. Er ist offenkundig bereits auferstanden. In den Händen hält er eine Geissel und ein Reisigbündel, mit dem man sich schlagen kann. «Das erinnert daran, dass Jesus vor der Kreuzigung ausgepeitscht wurde. Er muss sich nicht selbst geisseln», erklärt der Experte.
Er geht davon aus, dass der unbekannte Maler des Münsterlinger Schmerzensmanns sich auf eine Vorlage von Albrecht Dürer bezogen hat. «Das Andachts-Motiv wurde um 1509 als handgrosser Kupferstich gedruckt. Die Körperhaltung ist identisch, nur ist unser Christus viel jugendlicher.» Ein grosser Unterschied besteht auch in der Blickrichtung. Vom Hungertuch blickt der Auferstandene nach rechts unten. «Warum der Künstler das so angelegt hat, wissen wir nicht.»

Spuren in der Sprache
«Velum templi» – also Tempel-Vorhang – heisst ein Hungertuch offiziell. Sprechender sind die Bezeichnungen, die der Volksmund wählte. «Schmachtlappen» im Niederdeutschen ist besonders hübsch. Am bekanntesten dürfte wohl die Redensart sein, man nage am Hungertuch. Das Bild eines Menschen, der so arm ist, dass er in seiner Not auf eine Stück Stoff herumkaut, ist eben einprägsam.
Man erinnere sich an Charlie Chaplins Tramp im Film «Goldrausch», der vor Hunger seine Schnürsenkel als Spaghetti zubereitet. Dummerweise ist das Bild falsch: Der Dichter Hans Sachs (1494 – 1576) spricht noch vom „Nähen an dem Hungertuch“ . Erst später prägt er den Reim: «ich füll mein Wanst und wasch mein Kragen, lass Weib und Kind am Hungertuch nagen.»
Auch in den Kinder- und Hausmärchen von Jakob und Wilhelm Grimm wird am Tuch genagt.
Das Münsterlinger Hungertuch ist mittlerweile nicht nur in der Fastenzeit, sondern als Kunstwerk das ganze Jahr über zu sehen. Und wehe dem Kirchenbesucher, der es wagen sollte, ein Stück davon abzubeissen.

Von Inka Grabowsky
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