von Barbara Camenzind, 03.06.2024
Wale, die Oberfläche kratzend
Die Neue-Musik-Reihe NŒISE ging bei der letzten Ausgabe in dieser Saison auf den Bodensee – und erlitt keinen Schiffbruch. Die Besprechung eines schönschrägen Nachmittags. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Beide Touren ausverkauft. Die Whalewatching-Tourismusbranche floriert auch auf dem Untersee zwischen Kreuzlingen und Stein am Rhein. Und auch das Wetter passte sich dramaturgisch an. Nieselregen, kalter Wind und etwa so gemütlich wie bei einer Individualreisentour im Seydisfjörður zur gleichen Jahreszeit. Am 65. Breitengrad im Nordatlantik. Der „Wellengang” war nur für die schreibende Landratte vom Obersee eine kleine Herausforderung unter Deck.
Ungefähr ähnlich oberflächlich-unzimperlich wurden die Waltourist:innen an Deck der „Stein am Rhein” auch in Empfang genommen. Wer kennt das nicht: In Gruppen und auf Reisen funktionieren Menschen tatsächlich oft leicht hirnamputiert, beziehungsweise, werden sie so behandelt. Wer braucht schon einen Kopf in den Ferien.
Performerin Naomi Schwarz hatte diese leicht arrogant-oberflächliche Art der Animatorin/Reiseleiterin sehr gut drauf. Herrjeh, die ganze NŒISE-Schiffscrew, vom Kernteam Trompeter Christoph Luchsinger, Komponist Léo Collin und Techniker Leandro Gianini bis zu den geladenen Mitperformenden Aleksander Gabryś, Kontrabass, Sebastian Hofmann, Perkussion, Nuria Khasenova, Querflöte bis zu Kay Zhang, Saxophon steckten in diesen absolut scharfen Matrosen-Kostümen. So ein bisschen zwischen Schulschiff anno Kaiser Wilhelm Zwo und Querelle. Kompliment an Kostümbildnerin Mariana Vieira Grünig, die mithalf, die metaphorische Ebene zu bedienen - und den Schalk.
Animation und Anklage
Prophet Jona - im Wal und wieder ausgespuckt - gab dem Plot der ganzen Performance den roten Faden. Sein Ringen mit Gott war letztlich eine Enttäuschung für ihn. Der freche, aber auch liebevolle Zugang von NŒISE zu dieser oftmals etwas kleingeredeten biblischen Geschichte berührte das Publikum. Es gibt nicht nur Superhelden in der Bibel. Und Walfänger hatten oft auch Pech. Um Resilienz kämpft höchstens noch die Pädagogik.
In den neun Kapiteln mit Epilog wurde den Walbeobachtenden, uns Tourist:innen gnadenlos der Spiegel vorgehalten. Einer Gesellschaft, die sich immer mehr auf die Bedürfnisbefriedigung des ICHS zurückzieht und gleichzeitig auf dem Seziertisch liegt, weil ohne Sehnsucht die Sinnsuche vertrocknet. Leicht klamaukig, aber treffend dargestellt im Schiffsbauch der „Stein am Rhein“.
Auch die Kinder kamen auf ihre Kosten
Nach einer Werbe-Kochshow, argwöhnisch beobachtet von der realen Schiffscrew, weil mit Paraffin operiert wurde und einer sportlich-tänzerischen Harpunenshow, wurde das Publikum dann doch für würdig befunden, einen Wal zu sehen. Im Wind des Untersees. Bei denen im Wasser haben wir wohl vergessen, anzuklopfen, so die Erklärung. Die Mitreisenden interagierten in den mehr als zwei Stunden immer mehr so, als wären sie im Pauschalurlaub - gerade beim Quiz zum Schluss.
Und für die mitreisenden Kinder gab es mit Rettungswesten, Ortswechseln und Quietscheballons einiges an Mitmachprogramm. Eigentlich genial, wie diese zeitgenössische Musikperformance ohne grosses Getue alle Altersgruppen integrierte.
Musik hatte es nicht leicht
Ein schönes Schiff, eine wunderbare Kulisse von Konstanz bis Steckborn, mit Gottlieben, Ermatingen und der Insel Reichenau. Wäre es schönes Wetter gewesen, die Musik wäre fadegrad zur Hintergrundberieselung degradiert worden, bei allem Verständnis für Kunst. Sie hatte es auch beim samstäglichen Juni-Schietwetter, nicht ganz leicht, die Zuhörenden auf sich zu fokussieren. Ob NŒISE damit gerechnet hat, kann nur spekuliert werden.
Es war fast etwas schade, so beschäftigt zu sein mit dem Drumherum. Léo Collins Klangbilder waren von träumerischer Schönheit, traurig, hart, jazzig und sehr, sehr „walisch“ sensibel. Ein sehr berührender Musikmoment erklang, als alle Zuhörenden mit den Quietscheballons mitspielen durften und die Musik sich plötzlich in die Weite des Ozeans verlor. Und der zweite war der grosse Auftritt von Kontrabassist Aleksander Gabryś zum Schluss, der eine Art Paraphase über die Ausbeutung der Wale und die Verfolgung von Meereschützenden sang und spielte.
NŒISE hat den Wal, pardon, die Nase im Wind, wenn es um aktuelle Themen geht. Mit künstlerischem Tiefgang und Humor segelt die Reihe hart am Wind der Neuen Töne. Ahoi und danke für das Erlebnis.
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