Seite vorlesen

von Sascha Erni, 11.12.2019

Von Kieselsteinen und Menschen

Von Kieselsteinen und Menschen
"Daniel V. Keller--For a Fish Tank or a Parking Lot." | © Sascha Erni

Der Künstler Daniel V. Keller schafft mit seinem Beitrag zur «Facetten»-Reihe der Kulturstiftung ein störrisches Werk. Aber: Wer einmal den Zugang gefunden hat, entdeckt neue Horizonte.

Zur 18. Ausgabe der «Facetten»-Reihe hat sich die Kulturstiftung des Kantons Thurgau für ein gleichzeitig abstraktes wie auch äusserst konkretes Werk entschieden. Der junge bildende Künstler Daniel V. Keller hat für «For a Fish Tank or a Parking Lot» 6143 Kieselsteine einzeln fotografiert und die so entstandenen Schwarzweiss-Bilder in Neunergrüppchen arrangiert. «Kieselsteine finden sich im Fischaquarium oder im Parkplatzbodenbelag», erklärt das 511 Seiten starke Werk gleich selbst seinen Titel.

Tatsächlich thematisiert Keller mit der ordentlich-aufgeräumten Anordnung der Kiesel weniger das vielfältige Vorkommen von Kieselsteinen in unserer Welt, als dass er über die Menschlichkeit und das Individuum nachdenkt. Ergänzt wird diese Sicht mit fünfzehn Farbtafeln und vor allem auch einem lesenswerten Essay des Amsterdamer Künstlers und Autoren Maurits de Bruijn. Dessen Überschrift «A Planet Called Earth, as if That is all There is to it» darf hier als ironische Frage verstanden werden – heisst unser Planet «Erde», ganz so, als wäre er nichts anderes als Erde?

Daniel Keller hat über 6000 Kieselsteine einzeln fotografiert. Bild: Sascha Erni

Kontext als Potential

In seinem Aufsatz spricht de Bruijn vorwiegend über Gestein, Erde, Lava. Aber durch seine poetische Sprache wird schnell klar, dass es ihm um mehr geht als um einen etwas hübscher zu lesenden Geologiebeitrag. Wenn er den Planeten wortgewaltig vom Kern über Magmaströme bis zur Oberfläche aufschichtet, um dann zu Bauwerken und ganz generell «Fortschritt» zu wechseln, fragt man sich unweigerlich, ob die Erde eine kritische Metapher für die menschliche Gesellschaft darstellen könnte.

Mit sozialen Ständen, die wie getrennte Gesteinsschichten auf einander aufbauen zum Beispiel, ganz so, als wäre es schon immer so gewesen. Mit einem kochenden Etwas unter der Oberfläche, das immer wieder einmal hervorbricht – aber im Kern, im Herzen, wie de Bruijn es nennt, dann doch: «Von pechschwarzer Materie und pechschwarzer Stille erfüllt. Dieser Teil steht. Bewegt sich nicht, stellt keine Fragen.» Der Erde scheint der einzelne Kieselstein egal. Ist der Gesellschaft also auch das Individuum einerlei? Oder ist das Individuum nichts weiter als ein soziales Konstrukt, das erst durch den Kontext, in dem es lebt, geschaffen wird?

Jeder Stein erzählt von seiner Herkunft

In diesem Licht betrachtet entfalten Daniel Kellers Fotos eine neue Wirkung. Jeder Kieselstein ist für sich alleine erfasst, abgegrenzt, losgelöst von einem Kontext. Aber jeder Kieselstein ist auch seine eigene Welt, sein eigener Mikrokosmos. Und jeder Stein erzählt von seiner Herkunft, seiner Transformation. Ob ein Kieselstein jetzt im titelgebenden Aquarium oder auf einem Gehweg liegt ist dabei unerheblich, denn jeder ist austauschbar. Jeder Kieselstein ist sein eigenes Ding, erst in der Gruppe wird er schliesslich zu Kies, kann genutzt werden.

Die fünfzehn Farbtafeln zeigen passenderweise virtuelle Welten, keine Fotos: Gebäude, Strukturen, Gegenstände, erschaffen von einem Menschen, aber nicht real. Sie zeigen keine Dinge, sondern Möglichkeiten. Potential also. So, wie auch jeder einzelne Kieselstein das Potential hat, Beton oder Fischtankfüllmittel zu werden. Je nach Kontext eben.

Die Farbtafeln sind auf transparenten Film aufgetragen, der Hintergrund – Kontext – ändert also direkt die Wirkung der Bilder. Bild: Sascha Erni

Eine poetische Meditation über das, was das Individuum ausmacht 

«For a Fish Tank or a Parking Lot» ist eine poetische Meditation darüber, was das Individuum ausmacht, oder besser noch: ausmachen könnte. Und wie auswechselbar der Mensch wird, wenn er aus dem Kontext – seinem eigenen sozialen Gefüge, der Gesellschaft, aber auch der Natur und Umwelt – gerissen wird. Das Buch ist ein störrisches Werk, der Zugang fällt vielen Betrachtenden wohl etwas schwer. Um so mehr muss man der Kulturstiftung des Kantons Thurgau ein Kränzchen winden, dieses Projekt ermöglicht zu haben.

For a Fish Tank or a Parking Lot. Daniel V. Keller. Mit einem Essay von Maurits de Bruijn. St. Gallen: Jungle Books, 2019. ISBN 978-3-033-05663-3. www.kulturstiftung.ch, www.jungle-books.com 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Kunst

Kommt vor in diesen Interessen

  • Kritik
  • Bildende Kunst
  • Fotografie
  • Architektur

Werbung

Fünf Dinge, die den Kulturjournalismus besser machen!

Unser Plädoyer für einen neuen Kulturjournalismus.

Unsere neue Serie: «Wie wir arbeiten»

Unsere Autor:innen erklären nach welchen Grundsätzen und Kriterien sie arbeiten!

#Kultursplitter im Dezember/Januar

Kuratierte Agenda-Tipps aus dem Kulturpool Schweiz.

15 Jahre Kulturkompass

Jubiläumsstimmen und Informationen rund um unseren Geburtstag.

Wir suchen Verstärkung!

Wir suchen eine/n SocialMedia-Redaktor:in in einem Pensum von cirka 20 Prozent. Weitere Informationen hier...

21. Adolf-Dietrich-Preis 2025

Bewerbungsschluss: 28. Februar 2025

"Movie Day": jetzt für 2025 bewerben!

Filme für das 12. Jugendfilm Festival können ab sofort angemeldet werden. Einsendeschluss der Kurzfilme für beide Kategorien ist der 31.01.2025

Ähnliche Beiträge

Kunst

Irritation als Strategie

Die Gruppenausstellung «Wahrnehmung und Irritation» im Steckborner Haus zur Glocke fragt im Kontext künstlerischer Praxis nach dem Verhältnis von Wahrnehmung und Rezeption. mehr

Kunst

Adrian Bleisch gibt Galerie auf

Schluss nach mehr als 30 Jahren: Im Februar 2025 schliesst der Kunstliebhaber seine Galerie in Arbon für immer. Am Ende war der wirtschaftliche Druck zu gross. mehr

Kunst

Die Welt hinter dem Vorhang

Im Kunstraum Kreuzlingen gibt es gerade Seltenes zu bestaunen: Die Verschmelzung verschiedener Kunstformen zu einem grossen Ereignis. mehr