von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 23.02.2017
Think Tank des 19. Jahrhunderts

Die Literaria Bischofszell ist der älteste Kulturverein des Kantons. Gegründet als Lesezirkel zum Austausch der gehobenen Gesellschaft, ist der Verein inzwischen einer der wichtigsten Kulturveranstalter rund um Bischofszell geworden. Ein Besuch bei Martin Herzog, dem aktuellen Präsidenten des Vereins.
Man kann nicht sagen, dass die Regeln nicht von Anfang an klar gewesen wäre. Ganz im Gegenteil sogar. Schwarz auf weiss wurden sie festgehalten. Fein säuberlich in einzelnen Paragrafen. Nummer sieben zum Verhalten im Lesekabinett geht zum Beispiel so: "Mit Ausnahme des Schachspiels darf auf dem Lesezimmer nicht gespielt werden" Oder die Nummer acht: "Laut zu sprechen und zu rauchen ist nicht erlaubt, sofern jemand Anwesender incommodirt würde." Und: Wer unentschuldigt bei einer Versammlung fehlte, musste sechs Kreuzer berappen. Es war ein Freitag, als jene Statuten und Regeln festgehalten wurden. Der 3. Januar 1851 markiert die erste Versammlung nach der Gründung des Kulturvereins Literaria in Bischofszell.
13 Bischofszeller Männer (das mit den Frauen war ein spezielles Kapitel, dazu weiter unten mehr) hoben den Verein aus der Taufe. Ziel war es, einen wöchentlichen Treffpunkt zu schaffen, um sich auszutauschen. Radio oder gar Fernsehen waren noch nicht erfunden, stattdessen gab es im Verein 12 Zeitungen im Abonnement, in denen man sich über das Weltgeschehen informieren konnte. Neben der stillen Lektüre gab es aber auch Lesungen und Vorträge. Im Fokus dabei vor allem: Unterhaltung. Oder wie es Johann Adam Pupikofer, Initiator und erster Präsident des Vereins, so unnachahmlich im Januar 1851 schrieb: "Bei Männern von der Bildungsstufe unserer Gesellschaftsmitglieder ist aber vorauszusetzen, dass sie sich gerne nicht bloss über allfällige Neuigkeiten oder Klatschereien oder Spässe und Scherze unterhalten, sondern auch über manches andere, das zwar den Horizont des Ungebildeten übersteigt, aber dem besser Unterrichteten nur umso mehr Vergnügen gewährt, weil es zugleich erhebt und belehrt."
Sämtliche Disziplinen aus Wissenschaft und Kultur sollten berücksichtigt werden. Die Mitglieder waren angehalten, selbst Vorträge zu halten. Pupikofer war damals als Dekan der reformierten Kirche in Bischofszell tätig. Über die Jahre wurde die Literaria so zu einer wichtigen Gedankenschmiede, heute würde man wohl Think Tank sagen, für das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in Bischofszell.
Der Verein war die Gedankenschmiede des 19. Jahrhunderts
Heute, 166 Jahre später, sieht die Sache ein bisschen anders aus. Radio und TV sind Alltag, dazu gibt es noch so etwas Verrücktes wie das Internet. Die Gedankenschmieden sind heute längst global. Den Verein Literaria gibt es trotzdem noch. Auch wenn sich die Rolle geändert hat, vom Lesezirkel zum Kulturveranstalter, kaum jemand in der Region würde den Verein missen wollen. Seit vier Jahren ist Martin Herzog Präsident des rührigen Zusammenschlusses. Im Hauptberuf ist der 49-Jährige Schulleiter der Sekundarschule in Sitterdorf. Als er vor vier Jahren gefragt wurde, ob er den Vorsitz übernimmt, hat er gerne zugesagt. "Mir macht die Arbeit im Verein grossen Spass. Es ist mein Hobby", sagt er.
Martin Herzog ist eigentlich Mathematiklehrer, unterrichtet aber gerade nur noch Zeichnen und bildnerisches Gestalten. Er sagt selbst über sich, dass er nicht zum Theoretiker neige, sondern eher "ein Macher" sei. "Das Organisieren liegt mir. Ich habe als Jugendlicher einen Filmclub auf die Beine gestellt und immer auch mitgeholfen bei Schulfesten." Wenn er sich für eine Kultursparte entscheiden müsste, es wäre die Musik. "Ich bin von Haus aus Rocker, mag Musik von Queen, U2, den Red Hot Chilli Peppers und den Toten Hosen", sagt Herzog.
Rund 150 Mitglieder hat der Verein heute. Der Vorstand besteht aus acht Personen, gemeinsam entwickeln sie das Programm für jedes Jahr. "Jeder kann Ideen und Wünsche einbringen. Daraus versuchen wir dann ein stimmiges Programm zu machen, das möglichst viele Menschen anspricht", erklärt Herzog. Es gibt literarische Lesungen, Konzerte aus Jazz, Pop, Rock und Klassik, sowie Kabarett und wissenschaftliche Vorträge. Aber auch in Bischofszell ist es so wie überall auf der Welt - die Leute kommen heute nicht automatisch. Man muss ihnen schon etwas bieten. In der Konkurrenz mit anderen Veranstaltungen versucht die Literaria nun vermehrt auf ein jüngeres Publikum zuzugehen. "Das ist für uns überlebenswichtig", sagt Herzog. Zuletzt trat im Programm unter anderem die Band Yes I'm very tired now (YIMVTN) auf, eine Indie-Popband aus St. Gallen, die nach grosser Welt klingt.
War auch schon zu Gast: die St. Galler Band Yes I'm very tired now
Auch sonst bietet die Reihe, die mit kleineren Beiträgen auch vom Kanton und der Stadt gefördert wird, bekannte Namen auf. Der Schriftsteller Catalin Dorian Florescu hat in diesem Jahr hier schon gelesen, am 17. März kommt die bekannte Kabarettistin Uta Köbernick, im November 2017 gastiert der italienische Liedermacher Pippo Pollina. "Bei den Eintrittspreisen versuchen wir trotzdem moderat zu bleiben. Denn auch das gehört zu unseren Zielen - möglichst vielen Menschen den Zugang zu Kultur zu ermöglichen", erläutert Martin Herzog. Im Programm 2016/2017 liegen die Eintrittspreise zwischen 15 und 40 Franken.
Frauen erhielten erst später Zugang zum Debattierclub
Bei der Gründung im 19. Jahrhundert war die Literaria noch eher eine elitäre Veranstaltung. Der Jahresbeitrag kostete in den Anfangsjahren fünf Franken. Eine Summe, für die man damals auch 6,2 Kilogramm Brot bekommen konnte. Kein Wunder, dass das Bürgertum da erstmal unter sich blieb. Ebenso ausgeschlossen waren zunächst Frauen. Die Literaria war entsprechend des damaligen Zeitgeistes als "Debattierclub für Männer" gedacht gewesen. Erst 29 Jahre nach der Gründung des Vereins wurde Frauen gestattet an ausgewählten Vorträgen teilzunehmen. Ab 1885 waren sie auch zu den jährlichen Generalversammlungen geladen. Zur Freude eines Protokollanten von damals: "Es war wieder einmal ein Abend der ungezwungensten Fröhlichkeit, der Herz und Geist erquickt, derweil die verehrten Damen den Ton angaben. Sie zeigten sich von der liebenswürdigsten Seite, sodass selbst dem hartgesottensten Junggesellen eine dunkle Ahnung aufstieg von den unvergleichlichen Freuden des Familienlebens." Auch nicht unbedingt, das, was wir heute unter Gleichberechtigung verstehen, aber es war ein erster Schritt. Nachlesen kann man all die amüsanten Geschichten aus der Gründungszeit in der sehr lesenswerten Festschrift von Vera Etter, die zum 150-jährigen Bestehen des Vereins 2001 erschienen ist.
Am Ende gilt hier immer noch, was Johann Adam Pupikofer vor 166 Jahren schrieb: "Jeder bringe, was ihm beliebt, fremdes oder eigenes. Wir werden ihm dafür dankbar sein. Jede hämische Kritik soll ferne bleiben."

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