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Unter der Oberfläche

Unter der Oberfläche
Der Künstler in seinem Werk: Richard Tisserand hinter einer seiner Hinterglasmalereien in der neuen Ausstellung im Museum Rosenegg. | © Michael Lünstroth

Richard Tisserand ist als kluger Kurator des Kreuzlinger Kunstraums bekannt. Dass er auch selbst künstlerisch arbeitet, gerät da manchmal vergessen. Eine neue Ausstellung im Museum Rosenegg will das ändern.

Manchmal muss man hinter die Bühne schauen, um zu verstehen, was auf der Bühne gespielt wird. Eine solche Entdeckerlust war es auch, die Richard Tisserand in den Neunziger Jahren dazu trieb, mit Polaroid-Aufnahmen zu experimentieren liess. Irgendwann riss er die hintere, dunkle Beschichtungsfolie ab, um zu sehen, welches Geheimnis sich hinter den Sofortbildern versteckte. Welche Rätsel sich unter der Oberfläche lösten. Tisserand fand dort schliesslich eine Paste, die, solange frisch und flüssig, zeichnerisch bearbeitet werden konnte und das Bild vorne entscheidend veränderte. Der 72-Jährige erzählt gerne von diesem Erweckungs-Moment. Vor allem jetzt, da eine neue Ausstellung im Kreuzlinger Museum Rosenegg, seine frühen Polaroids mit seinen riesigen Hinterglasmalereien verbindet.

„Durchblick“ heisst die Schau, die der Künstler praktischerweise auch noch selbst kuratiert hat. Ob er das keinem anderen zugetraut habe? Tisserand, kariertes Hemd, verwaschene graue Jeansjacke, das Handy steckt in der Brusttasche, lächelt sein immer noch erstaunlich jungenhaftes Lausbubenlächeln. „Na ja, ich wollte das einfach gerne selbst machen, habe mir aber auch Rat von verschiedenen Menschen geholt.“ Die Ausstellung zeigt nun einen gewichtigen Teil des künstlerischen Schaffens Tisserands, zeigt Verbindungen im Werk auf und wirft nochmal ein anderes Licht auf den Mann, den so viele vor allem als klugen Kurator des Kunstraum Kreuzlingen kennen.

Die Überdimension als Stilmittel

Am Anfang stehen seine grossen Hinterglasmalereien. Einige davon zwei Meter hoch und drei Meter breit. Steht man davor, man möchte am liebsten darin versinken - und genau das passiert auch, man kann sich kaum dagegen wehren. Ein Effekt, der vom Künstler beabsichtigt ist. Die Überdimension als Stilmittel sei bewusst gewählt, um eintauchen zu können in diesen getupften Farbrausch. Es sind Bilder, die er im Lockdown geschaffen hat. Nach Fotografien aus seinem Garten in der Normandie. Gemalt hat er sie dort aber nicht, sondern in seinem Atelier in Schaffhausen: „Da habe ich mehr Distanz zu der Arbeit als wenn ich in Frankreich bin und das ist gut so, es objektiviert jedes einzelne Werk“, erklärt der 72-Jährige.

Distanz, Nähe, Garten, Natur, Idylle - all das findet sich in diesen Werken. Und wer nun denkt Gartenmalerei, das sei doch Kitsch pur, der wird hier eines Besseren belehrt. Als klassisches Gemälde auf Leinwand wirkte dieses Motiv fast einfältig. Die Scheibe schafft Distanz, sie nimmt dem Bild den Kitsch. Eine verblüffende Wirkung.

Pixelschlacht? Pinselschlacht? «Kraftwerk» heisst der Titel dieses Bildes. Es ist auch in der Kreuzlinger Ausstellung zu sehen. Bild: zVg

Analog? Digital? Alles löst sich auf

Betrachtet man die beiden grossen Bilder im ersten Ausstellungssaal abwechselnd, ergeben sich immer wieder Bezüge. Fast wirkt es, als sei das eine ein Ausschnitt von dem anderen. Die Betonung einer bestimmten Fläche, die Farbflächen werden grösser. Das Konkrete wird abstrakt. Wie bei einem digitalen Bild, das man bis zu seiner kompletten Verpixelung auflöst, durch die Auswahl immer kleinerer Ausschnitte. Und plötzlich ist das grosse Thema Digitalisierung im Raum. Was ist analog? Was ist digital? Und wo berühren sich beide Welten? Das Thema wird nicht weiter adressiert, aber der Impuls ist beim Betrachter gesetzt. Was der nun damit anfängt, liegt ohnehin nicht mehr in der Macht des Künstlers.

Geht man ein Stockwerk höher, dann staunt man auch über die grosse handwerkliche und gedankliche Leistung, die in diesen Arbeiten steckt. „Im Grunde muss das Bild in meinem Kopf fertig sein, ehe ich anfange. Zumindest so grob. Einmal angefangen ist der Ton gesetzt, die Arbeit in sich kaum mehr veränderbar“, erklärt Tisserand. Trotzdem lässt er im künstlerischen Prozess Unsicherheiten zu: „Man muss sich auch gehen lassen können bei der Arbeit, das Bild führt mich in eine bestimmte Farbwelt“, sagt der Künstler.

Was für eine unglaubliche Anstrengung

Die immensen Anstrengungen, die für ein solches Werk notwendig sind, hat Dolores Claros-Salina (Mitglied der Kunstkommission Kreuzlingen) in ihrer Eröffnungsrede bei der Vernissage nochmal vor Augen geführt: „Hinterglasmalerei ist eine intellektuelle, wissensbasierte Malerei, bei der der Bildaufbau in umgekehrter Weise erfolgt und in der Vorstellung präzise vorzuplanen ist: die vordergründige Farbschicht ist zuerst aufzutragen, sie entzieht sich im weiteren Malprozess der unmittelbaren Anschauung des Malers, muss ihm aber im Gedächtnis bleiben, wenn er Pinselstrich für Pinselstrich die Farben des Mittel-und Hintergrunds darüber setzt und die zu erzielende Lichtwirkung mitdenken muss.“

Hier zeigt sich auch, dass der Titel der Ausstellung klug gewählt ist. «Durchblick» spielt natürlich mit Tisserands Faible für die Hinterglasmalerei, aber nicht nur: Die Schau ist auch ein Durchblick durch das Gesamtwerk des Künstlers (eine Liste der ausgestellten Arbeiten gibt es hier). Dass beispielsweise der künstlerische Weg Tisserands von den Polaroid-Übermalungen zur Hinterglasmalerei beinahe vorgezeichnet war, auch das legt die Ausstellung erstmals so deutlich offen. Man sieht das zum Beispiel in der spannenden Gegenüberstellung von Tisserands vergrösserten Polaroids und seiner Hinterglasmalerei im ersten Obergeschoss. Noch deutlicher wird der Zusammenhang in einem Vergleich der wie ein Fries inszenierten frühen Polaroids (in denen der Künstler auch mit Selfies experimentierte) mit Tisserands erstem Hinterglasbild, einer Ansicht des Schaffhausener Rheinfalls von 1986. Es ist in einer Vitrine im zweiten Kabinett-Raum zu sehen.

Bin das ich? Richard Tisserand in seiner eigenen Ausstellung im Museum Rosenegg. Bild: Michael Lünstroth

Warum ein Kurator der Ausstellung am Ende geholfen hätte

Dahinter beginnt dann auch der eher schwächere Teil der Ausstellung. Die Qualität der Arbeiten lässt nach, es wird dem Werk Tisserands nichts Wesentliches mehr hinzugefügt und die Präsentation wirkt in den schwierigen kleinen Räumchen des Altbaus bestenfalls improvisiert. Man muss das so sagen: Die Räume des Rosenegg sind denkbar schlecht geeignet für zeitgenössische Kunst. Sie wird von den lieblichen Holzvertäfelungen erstickt.

Weil Hängungen an den denkmalgeschützten Wänden nicht möglich sind, lehnen die Arbeiten am Boden an der Wand oder liegen verloren in Vitrinen. Schon klar: Als ausstellender Künstler nimmt man sich jeden Raum, der einem geboten wird. Weniger wäre hier aber mehr gewesen. Wäre der Künstler Tisserand hier auf den Kunstraum-Kurator Tisserand getroffen, der Kurator hätte dem Künstler wohl geraten, auf diesen Teil der Ausstellung in diesen Räumen zu verzichten.

Nichtsdestotrotz bleibt „Durchblick“ eine Ausstellung, die das künstlerische Schaffen Tisserands in ein angemessenes Licht rückt. Sehenswert.

Termine: Die Ausstellung ist noch bis 13. Dezember im Museum Rosenegg zu sehen. Öffnungszeiten: Freitag und Sonntag, jeweils 14-17 Uhr, Mittwoch 17-19 Uhr. Eintritt: 8 Franken.

Video-Interview: Richard Tisserand über Lehren aus der Corona-Krise (Mai 2020)

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