von Jeremias Heppeler, 26.03.2021
Wonder Woman (2021)
Schon lange wurde kein Roman mehr so fiebrig erwartet wie Jessica Jurassicas Debütroman „Das Ideal des Kaputten“. Wie geht die Autorin mit dem Hype um? Ein Gespräch über Ängste, Macht, Drogen und Identitäten. (Lesedauer: ca. 11 Minuten)
Reden wir kurz über die Vorgeschichte zu diesem Interview: Ich hab Jessica Jurassica (JJ) das erste Mal Ende 2019 in Buenos Aires getroffen. Ich war dort, um einen Text über den Thurgauer Rapper DAIF und sein Atelierstipendium zu schreiben und kurz vor Abflug schrieb er mir, dass er ganz vergessen habe zu erwähnen, das JJ ja auch noch da wäre.
Wenn ich ganz ehrlich bin, machte mich diese Nachricht wenig starstruck, schliesslich verfolgte ich ihren Instagram-Grind schon seit einiger Zeit mit wachsender Bewunderung und einem Hauch von Angst. Diese merkwürdigen Gefühle verflogen aber ruckzuck, ich lobte ihre grandiosen TripAdvisor-Rezensionen, sie lobte meine Fähigkeiten Dosenbiere in Rekordgeschwindigkeit zu leeren.
Die viel besprochene Fan-Fiction über Alain Berset
Die folgenden Wochen zündeten unter Vollstrom, zu dritt filmten wir den Dokumentarfilm „Dieter Meiers Rinderfarm" und gründeten eine gleichnamige Punkband. Zurück in Europa buchten wir eine Tour und spielten Konzerte in Deutschland und der Schweiz, ehe Corona unser Projekt absorbierte und die Grenzen versiegelte.
In der folgenden Zeit verschoben sich die Energien rund um Jessica Jurassica, irgendetwas lag in der Luft: Ihre Fanfiction mit Bundesrat Alain Berset als entscheidendem Akteur wurde schweizweit besprochen und schweizweit nicht geschnallt.
Parallel dazu transformierte sich Jessica Jurassica als Sängerin des Duo CAPSLOCK SUPERSTAR und Traprapperin endgültig zur transzendentalen Popfigur.
„Es ist nicht eine autofiktionale Erzählung einer realen Person, sondern eine autobiographische Erzählung einer fiktiven Person.“
Jessica Jurassica über ihren Debütroman
Einige Monate später schrieb sie mir, dass gefühlt jedes einzelne Deutschschweizer Kulturmedium ein Rezensionsexemplar von „Das Ideal des Kaputten" vorbestellt habe und im Anhang sei der Roman als PDF. Ich hab ihn dann in einem Zug gelesen, sowie damals „Harry Potter und der Feuerkelch". Der Roman ist am 25. März im Zürcher Verlag lectorbooks erschienen. Eine Leseprobe gibt es hier.
Jessica, nachdem du mir von deinem Buch erzählt hattest und ich ein wenig zum Titel recherchiert hab, hatte ich eine irrationale Vorfreude auf deine Neapel-Beschreibungen entwickelt – aber dann gab es kaum welche. In der Erzählung sitzen wir sitzen einfach in diesem Vorort und als dann das Sammeltaxi gen Napoli losfährt, schlägt die Handlung immer einen Haken. Warum eigentlich?
Ah, die erste enttäuschte Erwartung eines Lesers, nice. Also das Ding ist: Ich bin so richtig auf dem Land aufgewachsen, St. Gallen war lange meine Metropole. Als ich zum ersten Mal eine richtige Grossstadt sah, war ich bereits ein Teenager, Paris war das. So richtig grosse Städte sind für mich immer noch sehr überfordernd, deshalb konzentriere ich mich lieber auf die Peripherie, sei es Torre del Greco ausserhalb von Neapel oder La Boca am Rand von Buenos Aires.
„Zürich ist für mich bis heute nicht viel mehr als ein Verkehrsknotenpunkt zwischen der Ostschweiz und Bern.“
Jessica Jurassica
Die Peripherie interessiert mich sowieso mehr als irgendwelche pulsierende Zentren. Wenn ich etwa über Zürich schreiben wollte, würde ich lieber über Schwamendingen oder so schreiben, als über die Langstrasse oder die Europaallee. Aber Zürich interessiert mich halt auch nicht wirklich, Zürich ist für mich bis heute nicht viel mehr als ein Verkehrsknotenpunkt zwischen der Ostschweiz und Bern.
Dieses Verkehrsknotenbild fand ich super, weil es Zürich so zielgenau entromantisiert. Ich bin auch auf dem Land aufgewachsen und ich wohne sogar wieder da. In Deutschland ist es so, dass es jeden, der irgendwie anders ist, der Kunst macht oder schreibt, automatisch nach Berlin zieht. Aber meistens ist es halt auch so, dass weder Zürich noch Berlin auf dich wartet. Bei dir ist das anders: Alle wollen dich so dringend nach Zürich locken! Ich glaube: Sie wollen dich dort verorten, wo du in ihren Wahrnehmungssystem als Hyper-Kreative / Punk / Vermummte / Feministin / Autorin (oder füge jede andere unzureichende und/oder falsche Zuschreibungen) hingehörst und (ab)greifbar bist - aber aus dem Appenzell oder in Bern bist du viel gefährlicher. Insbesondere für genau dieses System.
Punk, subversive Kunst, politische Literatur oder was weiss ich, wird einfach nie der Peripherie zugeordnet, das findet in Berlin statt oder in Zürich, das kommt nicht aus dem Donautal oder aus dem Appenzeller Hinterland. Und ja, ich hatte immer das Gefühl, wenn ich nach Zürich gehe und mich auf das ganze Game einlasse, dann zieht es mir den Ärmel rein und ich werde zu einer, die im Szeneclub schweigend in der Ecke steht oder mit der ganzen Zürcher C-Prominenz im Backstage sitzt und qualitativ hochwertiges Kokain zieht und gleichzeitig geniesst und hasst, dass alle wissen wer sie ist. In Bern ist das irgendwie anders. Bern ist ein Dorf, aber gleichzeitig steht hier eines der grössten autonomen Zentren im deutschsprachigen Raum mitten in der Stadt und das macht es auf eine Art sehr urban. Die Reitschule ist das erste, was man von Bern sieht, wenn man mit dem Zug einfährt. Bern ist irgendwie auch sehr distanziert, hier wird nicht gehyped oder so. Wenn ich in Zürich auftrete, sind die Leute eigentlich immer übertrieben begeistert. In Bern ist man eher so, ok erzähl uns was Neues.
„Ich hatte immer das Gefühl, wenn ich nach Zürich gehe und mich auf das ganze Game einlasse, dann zieht es mir den Ärmel rein und ich werde zu einer, die im Szeneclub schweigend in die Ecke steht oder mit der ganzen Zürcher C-Prominenz im Backstage sitzt und qualitativ hochwertiges Kokain zieht.“
Jessica Jurassica
Was einem ausserdem sofort ins Auge sticht: Die Erzählerin in deinem Roman ist unterwegs. Spanien, Italien, Frankreich, Südamerika, aber auch durch die Zeitebenen, die sich direkt an diese Reisen krallen. Warum kleben diese ganzen Ichs der Erzählung so arg an diesen Trips - lässt es sich da besonders gut greifen, wo und in welchem Zustand man zum jeweiligen Zeitpunkt war?
In der Antwort-Mail befinden sich drei Bilder zu dieser Frage:
Jetzt fühle ich mich richtig getestet – aber als aufmerksamer Leser deines Romans habe ich sofort die Peter-Stamm-DNA in den Memes erkannt. Aber das trifft sich sehr gut, weil ich eine Peter-Stamm-Frage habe. Der Film „Dieter Meiers Rinderfarm" und „Das Ideal des Kaputten" haben strukturelle Parallelen: „Dieter Meiers Rinderfarm" beginnt mit einem Blaise Cendrars Zitat, dein Buch referiert praktisch direkt auf Alfred Sohn-Rethel. Im Film wurde – wie der Titel verrät – Dieter Meier zum Spiegel, im Buch gibt eine kurze Passage, in welcher du dich an Peter Stamm abarbeitest. Warum hast du die beiden Typen ins Visier genommen?
Ich glaube ich lande immer wieder bei solchen Typen, weil mich Macht interessiert. Sie üben in verschiedenen Formen Macht und Einfluss aus, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Aber Macht ist nicht das Natürlichste auf der Welt, das ist es nur, wenn du ein erfolgreicher weisser Boomerboy bist.
Wenn ich solche Typen ins Visier nehme, geht es um den Versuch oder die Behauptung, ein enormes Machtverhältnis zu demontieren. Am meisten interessiert mich das dort, wo Machtverhältnis und Reibung so richtig absurd gross sind, das sind dann Typen wie der Verleger Pietro Supino oder der Bundesrat Alain Berset. Das macht zwar Spass, ist aber auch ein Risiko und hat mir schon einiges an Ärger eingebracht, weil es in den aktuellen Hegemonien als eine massive Grenzüberschreitung aufgefasst wird.
„Macht ist nicht das Natürlichste auf der Welt, das ist es nur, wenn du ein erfolgreicher weisser Boomerboy bist.“
Jessica Jurassica
Meine erste (schlecht) bezahlte Kolumne hatte ich deswegen bereits nach dem ersten Text wieder los und wegen der Alain-Berset-Fan-Fiction hatte ich die Bundeskanzlei am Hals. Aber natürlich haben mich diese Aktionen trotz der Konsequenzen in eine gewisse Machtposition gebracht, denn auch Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit sind Macht.
Und: Ich kann mir das leisten, weil mich das Pseudonym schützt und ich aber auch sonst eigentlich nichts zu verlieren habe. Ich habe ja etwa den Einstieg in die Berufswelt, wie er für jemandem mit einem geisteswissenschaftlichen Bachelorabschluss vorgesehen wäre, nie geschafft – unter anderem tatsächlich auch wegen solcher Typen.
Bei meinen wenigen Jobs, die einen Einstieg in die geregelte Arbeitswelt der Kreativwirtschaft hätten sein können, gab es immer irgendwann die Situation, dass ich wegen eines narzisstischen Boomers gehen musste. Rip der Traum eines durchschnittlichen Mitteschicht-Lifes.
„Ich wusste nicht, wie ich mit meinem Frauenkörper in der Öffentlichkeit agieren soll, die Möglichkeiten in diesem Land als weiblich gelesene Person irgendetwas mit Wirkung zu tun, schienen verschwindend gering."
Jessica Jurassica
Wie glaubst du, wäre das alles abgelaufen, wenn du das ohne Maske angegangen wärst?
Wahrscheinlich wäre ich mit Echtname und Gesicht überhaupt nie an die Öffentlichkeit getreten, hätte nicht den Raum gefunden, den ich brauchte, um meinen Ausdruck, meine Sprache zu entwickeln. Ich wusste nicht, wie ich mit meinem Frauenkörper in der Öffentlichkeit agieren soll, die Möglichkeiten in diesem Land als weiblich gelesene Person irgendetwas mit Wirkung zu tun, schienen verschwindend klein.
Also habe ich mich selbst neu konstruiert und dadurch eine Form gefunden, mit der ich sein kann, was ich will, fluid und von Identität zu Identität springend. Jessica Jurassica, Jessica Melissa, Jessica Erotica, Jessica Inkassa, Jessica Helvetica. Ich bin das alles, denn am Ende zählt ja sowieso nur die Performance.
Auch Weiblichkeit, dieses mühsame Attribut, das sich einfach nicht abschütteln lässt, wird so zur aktiven Performance, was mir erlaubt, mit den gesellschaftlichen Erwartungen an mich als Frau zu spielen und diese aufzubrechen. Ich brauche das performative Moment, um mich selbstbestimmt in der Öffentlichkeit zu bewegen, weil wenn man in diesem Land als reale, greifbare Frau in die Öffentlichkeit tritt, kommt direkt der Körper ins Spiel. Es wird einem einfach alles weggenommen: der Intellekt, der Humor, alles was man geleistet hat. Nur den Körper, den darf man behalten.
„Weiblichkeit, wird zur aktiven Performance, was mir erlaubt, mit den gesellschaftlichen Erwartungen an mich als Frau zu spielen und diese aufzubrechen.“
Jessica Jurassica
Ich glaube, dass du für ganz viele junge Autorinnen und Künstlerinnen definitiv ein Role-Model bist. Wie ist es, wenn dich die Maske plötzlich zur Superheldin macht, die du nie sein wolltest?
Ja, das ist durchaus eine Realität, die besonders in der rückständigen Schweiz wirkt – remember die Einführung des Frauenstimmrecht 1971, respektive 1990. Ich hatte lange kaum weibliche Vorbilder, die mich so richtig gecatcht haben. Es brauchte Künstlerinnen wie Haiyti und Stefanie Sargnagel, dass ich wahrgenommen habe, welche Möglichkeiten des Ausdrucks mir tatsächlich offenstehen. Wobei ja Haiyti, für das was sie leistet, nach wie vor nicht den Erfolg erfährt, den sie verdient hat und Stefanie Sargnagel mehrfach richtig übertrieben durch den Dreck gezogen wurde.
Wenn ich diesbezüglich eine gewisse Vorbildfunktion übernehmen kann, dann finde ich das gut. Das hat ja auch nicht viel mit einer Superheldin zu tun. Im besten Fall kann ich jungen Frauen einfach jene Möglichkeiten vermitteln, die für junge Männer durch die ganze Palette an Vorbildern in allen denkbaren Bereichen selbstverständlich gegeben sind.
Es tut auch gut zu sehen, wie sich in der deutschsprachigen Literatur vermehrt starke Stimmen entwickeln, die sich klar von der Demographie des literarischen Kanons abheben, aktuell etwa Hengameh Yaghoobifarah mit dem kürzlich erschienen Roman «Das Ministerium der Träume».
„Im besten Fall kann ich jungen Frauen einfach jene Möglichkeiten vermitteln, die für junge Männer durch die ganze Palette an Vorbildern in allen denkbaren Bereichen selbstverständlich gegeben sind.“
Jessica Jurassica
Im Anhang der Mail ist ausserdem das folgende Foto:
Ah, ich finde die Kombination von Haiyti und Stefanie Sargnagel schlüssig mit Blick auf deine Arbeit und nehme das direkt als Steilvorlage, weil du ja parallel zu deinem Roman auch immer weiter als Musikerin/ Performerin/ Rapperin in Erscheinung getreten bist. In deinem Roman wird die Musik im Speziellen aber ausgeblendet, bestenfalls angeteast. Ich hatte fast das Gefühl, dass dein echtes Leben und Werk so wild ausfasert, dass man das gar nicht in eine literarische Figur packen kann. Vor allem drängt sich aber da auch Frage nach den Rändern von Realität und Fiktion auf. Wie hast bist du damit umgegangen?
Mein Selbstverständnis als Musikerin ist noch relativ frisch, das hat sich erst letztes Jahr so richtig manifestiert, mit der CAPSLOCK-SUPERSTAR-Albumproduktion und der Zusammenarbeit mit HATEPOP. Deshalb konnte das nicht wirklich in den Roman einfliessen, der war da schon fast fertig.
Und ja, ich bin sehr breit unterwegs, da können kaum alle Ebenen in einer Form zusammenfinden, auch wenn die Sprache in meiner Arbeit ein grosser gemeinsamer Nenner ist. Da konstruiert dann auch ein selektiver Blick, also Weglassungen, eine gewisse Fiktion. Wobei sich dieses Thema eigentlich auch erübrigt, wenn man bedenkt, dass die Fiktionalisierung bei meinem Roman bereits vor der Textebene stattfindet: Es ist nicht eine autofiktionale Erzählung einer realen Person, sondern eine autobiographische Erzählung einer fiktiven Person.
„Meine Sprache hat sich so entwickelt, wie sie sich entwickelt hat, weil ich ein Ventil brauchte, um den ganzen Abfuck, den ich erlebt habe oder der an mich herangetragen wurde, zu verarbeiten.“
Jessica Jurassica
Dein Umgang mit Grenzgebieten zwischen Realität und Fiktion bleibt subtil – hast du da manchmal mit einem kompletten Ausbruch ins Fiktionale geliebäugelt? Oder hätte das den Text gesprengt?
Schreiben war für mich lange an erster Stelle ein Verarbeitungsprozess. Meine Sprache hat sich so entwickelt, wie sie sich entwickelt hat, weil ich ein Ventil brauchte, um den ganzen Abfuck, den ich erlebt habe oder der an mich herangetragen wurde, zu verarbeiten. Das ist eigentlich immer die Basis meiner Texte, woraus schon mal fiktive Elemente entstehen können, aber so richtig ins Fiktionale ist das nie abgedriftet.
Ich glaube, wenn ich fiktional schreiben würde, würde ich mir einfach nur neues Material aufbürden, das ich irgendwie verarbeiten müsste. Neue Beziehungen, Dramen, Traumata. Das wird ja auch alles Teil von mir, wenn ich sowas entwickle. Bei der Berset-Fan-Fiction hat mich das ziemlich mitgenommen und ich habe mich gefragt, warum ich jetzt auch noch Verantwortung für die Probleme dieser fiktiven oder fiktionalisierten Charaktere übernehmen soll. Ich struggle doch echt schon genug mit meinem eigenen Life. Die Realität ist für mich schon überwältigend genug, eine weitere Ebene überfordert mich nur zusätzlich.
Ausserdem habe ich so eine irrationale Angst, dass wenn ich Geschichten erfinde, sich diese irgendwann bewahrheiten, weil sich die Dinge plötzlich so real anzufühlen beginnen, wenn man sie aufs Papier übersetzt. Aber vielleicht bin ich da auch wirklich einfach etwas auf dem Ayahuascatrip hängengeblieben und wer weiss: Vielleicht werde ich irgendwann auch einfach Fantasy-Autorin.
„Ich habe so eine irrationale Angst, dass wenn ich Geschichten erfinde, sich diese irgendwann bewahrheiten, weil sich die Dinge plötzlich so real anzufühlen beginnen, wenn man sie aufs Papier übersetzt.“
Jessica Jurassica (Bild: Jeremias Heppeler)
Ich will diesen Fantasy-Roman so schnell wie möglich in den Händen halten. Allerdings zeichnen die sich ja vor allem durch total überladene Tausendseiter aus. Dein Roman ist ziemlich kompakt – ich hab ihn an einem Stück in so zwei bis drei Stunden durchgelesen. Dadurch ergibt sich aber auch eine andere mediale Wahrnehmung. Ich habe ganze viele Sequenzen extrem filmisch wahrgenommen, etwa den Ayahuasca-Trip, oder diese Szene auf einem französischen Campingplatz, die für mich so eine wahnsinnige Spannung aufgebaut hat. War das bewusst?
Ich glaube da hat mich tatsächlich MDMA geprägt. Ich habe zwar ein sehr schwieriges Verhältnis zu dieser Droge und komme richtig schlecht auf den Trip und das darauffolgende Down klar, weshalb ich sie schon länger nicht mehr konsumiere. Aber eine Zeit lang war das schon ein Thema. MDMA ist eine Kino-Droge.
Die Welt komprimiert sich in diesem spezifischen High auf den aktuellen Schauplatz, auf den Raum in welchem man sich befindet und auch temporal: Auf den unmittelbaren Moment. Alles was darüber hinausgeht, existiert nicht. Meine Drogenphase war auch eine sehr psychotische Phase, eine Zeit lang war ich komplett im Film, da steckt das Kinematische ja bereits in der Formulierung.
In dieser Zeit habe ich mich ständig wie in einem sehr absurden, wirren Film gefühlt, immer auf Distanz zur Welt und ich musste mich an Schauplätzen, Statistinnen und Requisiten festhalten, um nicht komplett lost zu gehen. Ich hatte grosse Angst davor, dass ich in meinem Leben nur eine Schauspielerin bin, die einem Skript folgt. Das Schreiben hat mir ermöglicht, das Drehbuch zu meinem Film in meinen eigenen Händen zu haben und mich wieder selbstbestimmt zu fühlen.
„Ich hatte grosse Angst davor, dass ich in meinem Leben nur eine Schauspielerin bin, die einem Skript folgt. Das Schreiben hat mir ermöglicht, das Drehbuch zu meinem Film in meinen eigenen Händen zu haben und mich wieder selbstbestimmt zu fühlen.“
Jessica Jurassica
Als du auf Facebook angekündigt hast, dass dein Roman kommt, ist der Post explodiert und einer hat geschrieben "Haben will!". Facebook und Roman – wie ist das Gefühl sich erfolgreich auf/in/mit zwei so (k)alten Medien zu bewegen?
Du meinst: Facebookposts und Romane, beides im Grunde Boomerformate? Auf Facebook ist das erst abgegangen, als ich ein Foto des gedruckten Buches gepostet habe, angekündigt war es schon länger. Die Menschen gehen einfach immer noch krass auf Printprodukte ab. Erst, wenn man etwas anfassen kann, ist es auch wirklich etwas wert und erst wenn man einen richtigen Roman bei einem richtigen Verlag gedruckt hat, ist man eine richtige Autorin.
Digital kontextualisierte Literatur wird immer noch unterschätzt. Aber mein Roman ist ja nicht nur ein Roman, sondern als Objekt auch ein Meme. Das Cover transportiert eins zu eins meine Instagram-Ästhetik, mit dem Buch manifestiert sich also gewissermassen mein Insta-Grind, er wird plötzlich physisch.
Und dass ich den Titel von einem Buch, das vor hundert Jahren erschienen ist, übernommen habe, ist ja eigentlich auch nochmals ein Meme-Layer.
Wie ist dein Gefühl jetzt gerade vor der Veröffentlichung? Eine Menge vermeintlich wichtiger Kritiker hat sich Rezensionsexemplare gesichert – und die Erfahrung zeigt, dass die (oder mindestens die Kommentarspalten) eine Menge giftiges oder ungelenkes Zeug schreiben werden. Wie bereitest du dich darauf vor?
Uff, ehrlich gesagt bin ich, seit sich abzeichnet, dass da schon bisschen etwas auf mich zukommen wird, etwas überfordert. Ich habe Erfahrung mit schnelllebigen, oberflächlichen Hypes, die primär in den sozialen Medien und den tagesaktuellen News stattgefunden haben. Da wirst du jeweils nach drei Tagen von der nächsten irrelevanten – oder irrelevant geframten – Story abgelöst.
Vom Feuilleton wurde ich aber bis jetzt kaum wahrgenommen, deshalb kann ich nicht ganz einschätzen, was da auf mich zukommt und wie da das Framing aussehen wird. Aber um Floskeln werden sie auch da nicht herumkommen und gerade die Literaturkritik hat ja auch so ihre Probleme mit Autorinnen, Nicole Seifert hat das kürzlich in einem Artikel sehr treffend analysiert.
Vielleicht mache ich ein kleines Bullshitbingo und lasse mich überraschen, was sich da bewahrheitet. Ist es ein «Millennial-Roman»? Bin ich «Die Stimme einer Generation»? Bin ich «[Insert random Popliteratur Dude] aber als Frau»? Wird an erster Stelle mein feminstischer Blick, meine Perspektive als weiblich sozialisierte Person thematisiert, an zweiter mein Pseudonym und erst an dritter dann die literarische Qualität des Textes? «Wer ist die junge Frau? Warum provoziert sie?» Und: Wie viele Fragezeichen passen eigentlich in einen Lead?
Reinhören: Im SRF wurde der Roman schon besprochen
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