von Inka Grabowsky, 20.07.2018
Eine Plattform für die Geschichte des Thurgau
Karin Bauer ist neue Präsidentin des Historischen Vereins des Kantons Thurgau – alles neu erfinden will sie aber nicht.
Rund 30 Mitglieder des Historischen Vereins stehen um den Weinfelder Bürgerarchivar Franz-Xaver Isenring herum und lauschen gespannt seinen Anekdoten. Die Geschichte Weinfeldens wird mit Hilfe seiner Geschichtchen wieder lebendig. Man steht im Kräutergarten hinter dem Haus zum Komitee und kann sich lebhaft vorstellen, wie hier der Apotheker Paul Reinhart Ende des 18. Jahrhunderts seine Drogen anbaute – wenn er nicht gerade das Amt als Präsident der provisorischen Thurgauer Regierung ausfüllte. Gleich nebenan bewundern die Geschichtsinteressierten den Stollen, den Joachim de Martin Haffter 1839 graben liess, um Weinfelden mit fliessend Wasser zu versorgen – leider vergeblich. Bis heute reicht die Ausbeute nur für einen Brunnen. Und sicher wird nach der Führung keiner der Anwesenden jemals vergessen, warum eine Hausnummer in der Frauenfelderstrasse rot ist und nicht blau wie alle anderen: „Bis Ende der siebziger Jahre gab es hier Damenunterwäsche“, erzählt der Archivar. „Das Haus wurde passend zur Auslage im Schaufenster fleischfarben gestrichen – und eine rote Hausnummer passte für die Besitzer viel besser ins Farbschema.“
Die Wirkung der Vergangenheit
Diese Spuren der Vergangenheit im heutigen Alltag sind es, die Karin Bauer faszinieren: „Ich finde es wichtig, einen anderen Blick auf Orte zu werfen, an denen ich täglich vorbeigehe. Mitunter merkt man Gebäuden die historische Bedeutung sofort an. Bei anderen muss man genauer hinsehen.“ Die 43-Jährige ist auf dem Seerücken aufgewachsen, wohnt heute in Frauenfeld und unterrichtet unter anderem Geschichte an der PMS Kreuzlingen. Der Thurgau ist ihr also vertraut, auch wenn sie zugibt, dass sie erst während des Studiums in Zürich begonnen hat, sich stärker mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen. Sie schrieb Arbeiten über die Papierfabrik in Bischofszell und - aufgrund von Scheidungsakten im Bezirk Arbon - über das Konzept der Ehe im ausgehenden 19. Jahrhundert. „Ursprünglich hatte mich allerdings die industrielle Revolution besonders interessiert, eben weil sie weitreichende Veränderungen mit sich brachte, die bis heute nachwirken.“
Attraktive Angebote für Geschichtsinteressierte
Nicht immer ist es einfach, Menschen für die Vorstandsarbeit in Vereinen zu gewinnen. Karin Bauer jedoch ist hoch motiviert: „Der Historische Verein ist eine gute Institution, die es braucht, um der Geschichte des Thurgaus eine Plattform zu geben. Deshalb übernehme ich das Präsidium gerne.“ Ihr Vorgänger, André Salathé, hatte das Amt zwanzig Jahre inne – so lange in die Zukunft will die jetzige Präsidentin noch nicht planen. Für die nächste Zeit allerdings hat sie sich einiges vorgenommen. „Die Rekrutierung neuer Mitglieder ist sicher eine Herausforderung“, sagt sie. Derzeit hat der Verein 574 Mitglieder, die jährlich 50 Franken Beitrag zahlen. Dafür wird ein Jahresprogramm zu einem bestimmten Thema geboten, zu dem Führungen im Rahmen der Jahresversammlung gehören und ein Band der „Thurgauer Beiträge zur Geschichte“. Zudem werden ein Zyklus mit mehreren Vorabendveranstaltungen und eine Exkursion angeboten. „Wir überlegen immer, wie wir etwas sichtbar machen können, was auf den ersten Blick vielleicht verborgen bleibt“, so die neue Präsidentin, die zuvor für die Veranstaltungen zuständig war. „Wir sind dabei nicht nur in der Vergangenheit verhaftet, sondern suchen auch die Anbindung an die Gegenwart.“ Um den Verein auch für jüngere Mitglieder attraktiv zu halten, werde man eventuell neue Veranstaltungsgefässe schaffen. „Das müssen wir gemeinsam im Vorstand überlegen. Doch unsere Mitglieder können damit rechnen, dass auch in Zukunft Veranstaltungen in den bekannten Formaten organisiert werden.“
Mehr zum Historischen Verein
Interview mit André Salanthé: Was hält eigentlich den Thurgau zusammen? Und wie lange gibt es den Kanton überhaupt noch? Kaum jemand denkt so tief über solche Fragen nach wie André Salathé. Der Staatsarchivar machte den Historischen Verein in den letzten zwanzig Jahren als Präsident wieder zur wichtigen Institution für alle Geschichtsinteressierten; jetzt tritt er zurück. Ein Gespräch unter Studienkollegen.
Über den Historischen Verein und seine Arbeit: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/die-juengeren-interessieren-sich-kaum-fuer-geschichte-3648
Von Inka Grabowsky
Weitere Beiträge von Inka Grabowsky
- Heimspiel für 75 Kunstschaffende (09.12.2024)
- Eine neue Welt tut sich auf (04.12.2024)
- Gruselige Geschäfte (20.11.2024)
- Die Musikerklärer (19.11.2024)
- Wann ist ein Mensch ein Mensch? (12.11.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Wissen
Kommt vor in diesen Interessen
- Bericht
- Geschichte
Ähnliche Beiträge
Erfmotingas
1300 Jahre Ermatingen. Das Buch zum Jubiläum ist mehr als eine blosse Chronik, es ist eine eigene Liebeserklärung an die Geschichte eines Ortes. mehr
Wissen macht glücklich
«Wie wir arbeiten» (2): Kaum jemand schreibt schon so lange für uns wie Inka Grabowsky. Für sie ist das Gefühl, wenn der Groschen fällt, unbezahlbar. mehr
Schauplätze des Zweiten Weltkriegs im Thurgau
Die Frauenfelder Sonderausstellung «Fliegeralarm – Konfliktarchäologie im Thurgau» begibt sich auf Spurensuche. mehr