von Philipp Bürkler, 28.03.2022
Spurensuche in Steckborn
Der grosse niederländische Künstler M.C. Escher verbrachte mit seiner Familie jahrelang die Sommerferien in Steckborn. Exakt 50 Jahre nach seinem Tod erinnert in der Gemeinde kaum noch etwas an das Genie, dessen Bilder bis heute fester Bestandteil der globalen Popkultur sind. Oder ist da doch etwas? (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Steckborn liegt an diesem Vormittag Mitte März leicht vom Nebel umhüllt, der See grau, fast wie flüssiges Blei. Nur der Himmel schimmert rötlich, verfärbt durch Milliarden von Saharastaubkörnern. Ich stehe oberhalb Steckborn auf dem Parkplatz Eichhölzli und überlege mir, wie die Landschaft und die Umgebung um mich herum wohl vor etwa 80 bis 90 Jahren ausgesehen haben.
Damals, als der niederländische Künstler und Mathematiker Maurits Cornelis Escher, oder kurz M.C. Escher (1898-1972), wie er sich selbst nannte, vielleicht genau an der selben Stelle stand und auf das Städtchen und den See hinab blickte.
Verändert hat sich die Landschaft ganz bestimmt. Sie verändert sich stetig über die Jahre, langsam und gemächlich zwar, aber der Verwandlungsprozess ist unaufhaltsam.
Berühmte Bilder der Metamorphose
Es ist genau jene subtile Veränderung, die auch in Eschers Holzschnitten, Lithografien und Drucken zu finden ist. Seine endlosen Bilder bringen Menschen jeglichen Alters auch 50 Jahre nach seinem Tod noch immer ins Staunen.
Berühmt sind seine Bilder der Metamorphose, in denen sich ein Vogel in einen Fisch verwandelt. Nach wie vor faszinierend sind aber auch seine verschiedenen Darstellungen der Penrose-Treppe, die sich unendlich oft hinauf und gleichzeitig hinab steigen lässt.
Ein bis zur Erschöpfung arbeitender Künstler
Der 1898 in Leeuwarden im niederländischen Friesland in eine gebildete und wohlhabende Familie geborene Escher war ein meisterhafter Architekt der optischen Täuschung, perspektivischen Verzerrung und unmöglicher Figuren.
Faszinierend und teilweise beklemmend zugleich ist Eschers stets in schwarzweiss gehaltene Fantasiewelt. Farben verwendete der teilweise manisch und bis zur Erschöpfung arbeitende Künstler Zeit seines Lebens nämlich nie, erst die Hippies der 1960er-Jahre kolorierten seine Bilder zu psychedelischen Werken, ohne allerdings ihn um Erlaubnis zu fragen.
Video: Einblicke ins Werk von M.C. Escher
Zwischen Kunst und Mathematik
Ob er tatsächlich ein Künstler war, darüber war sich nicht nur die Kunstwelt lange uneinig, sondern auch Escher selbst, sah er sich doch viel mehr als Mathematiker. Gleichzeitig waren Mathematiker von ihm verblüfft, weil er als nicht studierter Mathematiker in seinen Zeichnungen wissenschaftliche Problemstellungen illustrierte, die bisher jedem echten Mathematiker verschlossen geblieben waren.
Es ist also kompliziert. Eschers Welt ist kompliziert. Er war gewiss kein einfacher Zeitgenosse.
Ich stehe immer noch auf dem Parkplatz Eichhölzli, als nach einigen Minuten ein Postauto anhält. Eine Frau mit einem Hund steigt aus. Ihr Name ist Barbara Lüssi. Ich habe mich mit ihr verabredet. Frau Lüssi lebt in Winterthur, hat aber immer noch ein Häuschen in Steckborn, in dem sie oft Zeit verbringt.
Wie landete der grosse Künstler im kleinen Steckborn?
Im früheren Leben war sie Apothekerin und Rechtsmedizinerin. Lüssi ist eine der letzten Personen, die noch von einem sichtbaren Beweis Kenntnis haben, den Escher in der Gemeinde Steckborn hinterlassen haben soll. Wir wollen ihn suchen.
Beim Spaziergang durch ein nahes Waldstück erzählt sie mir, dass die letzte Person in der Gemeinde, die Escher noch persönlich gekannt haben soll, eine Frau Müller, erst vor einigen Monaten in einem Altersheim verstorben sei. Und dann erzählt sie, wie es überhaupt dazu kam, dass der grosse Künstler im kleinen überschaubaren Steckborn am Untersee gelandet ist, damals in den 1920er-Jahren.
Folgenreicher Italienaufenthalt
1922 ist Escher 24 Jahre alt, erstmals reist er in jenem Jahr nach Italien. Er ist derart begeistert von der Kultur und der Architektur des Landes, dass er beschliesst, sich für eine längere Zeit dort niederzulassen. Eine folgenreiche Entscheidung, die sein Leben nachhaltig verändern sollte.
Im Frühling 1923 ist Escher noch immer in Italien. Er wohnt in Ravello in einem kleinen Hotel auf einem Hügel mit direkter Sicht auf das Mittelmeer. An einem der endlosen, ruhigen und milden Nachmittage setzt sich auf der Veranda des Hotels eine Familie mit ihrer Tochter an seinen Tisch. Es ist die 24-jährige Schweizerin Jetta Umiker.
Gemeinsame Jahre in Rom
Die junge Frau ist in Mailand geboren und lebte zuvor einige Jahre in Russland, weil ihr Vater dort geschäftlich tätig war. Während der russischen Revolution 1917 wurde die Familie jedoch von den Bolschewiken aus dem Land vertrieben.
Wie Escher, ist auch Jetta Umiker Feuer und Flamme für die Kultur Italiens. Aus dieser gemeinsamen Begeisterung für ein Land und seine Kunst entsteht eine glühende Anziehung. Noch vor der Abreise der Familie Umiker aus Ravello, verlieben sich die beiden Hals über Kopf ineinander. Das junge Paar zieht kurz darauf in eine gemeinsame Wohnung in Rom.
Mussolini zerstört das Glück
Im Jahr darauf wird geheiratet und weitere zwei Jahre später, 1926, kommt der erste von drei Söhnen, George Arnold, auf die Welt.
Während Escher tagein tagaus oft in einem euphorischen Wahnzustand zeichnet und verbissen immer neue Figuren erfindet oder Landschaftsbilder anfertigt, etabliert Benito Mussolini auf den Strassen Roms seinen zerstörerischen Faschismus.
Steckborn als Rückzugsort
Friedvoller geht es zu jener Zeit 900 Kilometer nördlich von Rom in Steckborn zu und her. Dort lebt Jetta Umikers Schwester Nina mit ihrem Mann Oskar Schibler. Der angesehene Industrielle Schibler ist der «Herr Direktor» der örtlichen Kunstseidenfabrik.
Steckborn kommt Escher wie gelegen. Seine Frau kann ihre Schwester wieder einmal sehen und er kann sich von der Natur inspirieren lassen; und endlich etwas Erholung und Abstand vom hektischen und faschistischen Rom. Im Sommer 1927 reist Escher mit seiner Frau und seinem Sohn erstmals an den Untersee. Unterschlupf finden sie bei Nina und Oskar Schibler an der Ackerstrasse.
Grosse Krise: Keiner kauft mehr seine Bilder
Bis 1938 sollten Eschers jedes Jahr den Sommer in Steckborn verbringen, teilweise dauerten die Aufenthalte mehrere Wochen oder sogar einige Monate.
Ab dem Sommer 1929 kommt die Familie Escher bereits zu viert auf Besuch in den Thurgau. Ein halbes Jahr davor im Dezember 1928, ist nämlich Eschers zweiter Sohn Arthur Eduard auf die Welt gekommen. Während es familiär gut läuft und er Jetta noch immer liebt, läuft es beruflich nicht sehr gut.
Escher entwickelt zwar immer neue visuelle Ideen, verkaufen kann er aber fast keines seiner Bilder und neue Aufträge hat er auch keine. 1930 leidet die Familie an Geldmangel. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, erkranken Escher und seine beiden Söhne George und Arthur. Escher leidet an Darm- und Zahnschmerzen, seine Söhne an Lungenentzündung, Ohrenentzündung und Keuchhusten.
Das vergessene Werk
Ich spaziere mit Barbara Lüssi noch immer durch den Wald, durch die Lichtungen sind der See und die Dächer von Steckborn erkennbar. Da kommt Lüssi die Anekdote des Klosters Feldbach in den Sinn.
Aus Dankbarkeit für die jährliche sommerliche Gastfreundschaft, zeichnet Escher 1931 ein Bild des Refektoriums, dem ehemaligen Kloster Feldbach in Steckborn. Das Bild schenkt Escher dem Direktor Schibler. Escher nennt das Bild «Canteen in Steckborn», weil sich damals eine Kantine im heutigen Hotel befand.
Der Holzschnitt sollte Jahrzehnte später jahrelang in der Wohnung der Eltern der örtlichen Schriftstellerin Marianne Ulrich hängen. Gemäss einer Anekdote, die Marianne Ulrich literarisch verarbeitet hat, hat sie das Bild nach einer Aufräumaktion ins Brockenhaus gebracht, weil sie die Bedeutung nicht erkannte, geschweige denn M.C. Escher kannte. Und auf dem Bild hatte es sowieso «gelbliche Stockflecken», also nichts wie weg damit in die Brocki.
Ein Original-Escher für 40 Franken im Brockenhaus
Im Brockenhaus wartete der Original-Escher für 40 Franken auf einen neuen Besitzer. Kaum brachte Ulrich das Bild in die Brocki, entdeckte sie in der Zeitung ein Inserat; ein New Yorker Kunsthändler und Escher-Sammler suchte angeblich seit Jahren nach genau diesem Bild, um seine Sammlung zu vervollständigen.
Die Schriftstellerin eilte in die Brocki und holte sich das Bild zurück. Sie kontaktierte den amerikanischen Kunsthändler und verkaufte das Werk mit einem «Gewinn von mehreren Tausend Franken» in die USA.
Flucht nach Belgien vor Mussolinis Faschismus
Im Frühling 1938 bringt Jetta den dritten Sohn, Jan Christoffel, zur Welt. Der darauffolgende Sommer sollte der letzte sein in Steckborn. Zu jener Zeit haben Eschers Rom längstens verlassen. Benito Mussolinis Faschismus hat die «bella vita» Italiens samt Demokratie längstens weggefegt.
Und als 1935 sein neunjähriger Sohn George gezwungen wird, in der Schule eine Mussolini-Uniform zu tragen, kann es Escher endgültig nicht mehr ertragen.
Die Familie flüchtet nach Château-d’Oex im Kanton Waadt, bevor sie zwei Jahre später endgültig die Schweiz Richtung Belgien verlassen sollten. Angeblich, weil Escher den vielen Schnee im Winter und - als Niederländer - die Enge der Berge sowieso nicht aushalten kann.
Der letzte Sommer
Wir spazieren noch immer durch den Wald, als Barbara Lüssi verrät, dass es hier irgendwo einen Baum gibt, in dessen Rinde Escher die Namen seiner drei Söhne eingeritzt haben soll. Auf einer Karte hat sie die Stelle markiert, als sie vor zehn Jahren das letzte Mal hier war. Ausser Lüssi weiss fast niemand genau, wo dieser Baum steht, ob er überhaupt noch steht.
Am Wegrand liegen zahlreiche frisch gefällte Buchen, «hoffentlich ist es nicht jene Buche, die wir suchen», sagt Lüssi etwas aufgeregt.
Tatsächlich hätte der Baum vor einigen Jahren gefällt werden sollen. Frau Müller, jene Person, die Escher noch persönlich kannte, habe das aber verhindern können. Aber wer kümmert sich jetzt um den Baum, jetzt, wo auch diese Frau tot ist?
Würdigung Eschers in Steckborn?
Dann endlich ist es soweit. In einer Kurve, direkt am Wegrand steht sie, eine etwa 15 bis 20 Meter hohe Buche. Barbara Lüssi ist erleichtert. Und auch ich bin erleichtert. Hier hat Escher also die Namen seiner drei Söhne eingraviert. «Der oberste Name ist immer noch sehr gut lesbar, es ist der Name des jüngsten Sohnes Jan», erklärt Lüssi.
Die restlichen Namen sind etwas schwieriger zu entziffern und passen nicht so ganz zur Schreibweise George und Arthur. «Foto» oder vielleicht auch «Toto», das «o» könnte aber auch ein «e» sein, sowie «Jolo» ist in den Baum eingesetzt.
Ein letzter Septembertag in Steckborn
Lüssi vermutet, dass es sich dabei um Kurzformen der Namen handeln könnte. Auch Escher selbst wurde von seinen Freunden und der Familie mit der Kurzform «Mauk» gerufen.
Mit Bestimmtheit kann gesagt werden, wann genau Escher mit seinen Kindern hier war: Eingeritzt ist nämlich auch das Datum: «26 - IX - 38», also der 26. September 1938. Die Schrift hat sich durch das Wachstum des Baums über die acht Jahrzehnte ziemlich ausgedehnt, vom dünnen Schnitt mit dem Messer, zu den breiten und fetten Lettern.
September 1938: es waren vielleicht die letzten Tage oder Stunden der Eschers in Steckborn, kurz vor Abreise. Die ganze Familie Escher ist nochmals zusammen gekommen. Maurits, Jetta, die drei Kinder Jan, George und Arthur, sowie Jettas Schwester Nina und ihr Mann Oskar.
Warum erinnert so wenig in Steckborn an Escher?
Eigentlich schade, dass die Person Escher und seine Werke in Steckborn bis heute nicht stärker gewürdigt werden. Eine solch raue und doch vielschichtig differenzierte und verletzliche Persönlichkeit wie Escher eine war, passt eigentlich ganz gut zum sonst eher angepassten, aber eben auch vielfältigen Kanton Thurgau. Und welche Gemeinde kann schon von sich behaupten, einen Künstler beherbergt zu haben, der sogar Mick Jagger einen Korb gab?
Der Rockmusiker fragte Escher nämlich Ende der 1960er-Jahre, ob er eines seiner Bilder für ein Plattencover verwenden dürfe. Escher lehnte die Anfrage ab. Die Begründung; er habe keine Zeit und im Übrigen - so schrieb er in der Antwort - wolle er von Jagger nicht mit Maurits angesprochen werden, sondern «mit freundlichen Grüssen, M.C. Escher».
Von Philipp Bürkler
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