von Barbara Camenzind, 26.03.2019
Alte Meister und junge Menschen
Barockmusik ist gut für Kinder. Auch für das Kind in uns. Sagt Manuela Christen. Und sie weiss, wovon sie spricht. Seit Jahrzehnten vermittelt sie Musik und Musikgeschichte an Kinder. Was ist das Geheimnis der energischen Frau, die ein 100%-Pensum als Blockflötenpädagogin meistert, Ensembles leitet und zusammen mit Sohn, Kater und 15’000 Büchern ein schmuckes Haus in Kesswil bewohnt? Thurgaukultur.ch fühlte Manuela Christen auf den Zahn.
St. Gallen, Anfang März 2019. Manuela Christen sitzt an ihrem hübschen barocken Tischchen und moderiert ein Familienkonzert der St. Galler Musikschule. Auf zur Zeitreise ins frühe 18. Jahrhundert. Mit an Bord sind - nebst den musizierenden Kolleginnen und Kollegen - Schicki, Telefon, und ein rothaariger „Papierli-Priester“. Der in einem Waisenhaus für Mädchen arbeitet, wo die jungen Damen Annina dal Flauto heissen, oder so ähnlich.
Das klingt wunderbar fabuliert und ist gleichzeitig gut recherchiert. Bei den drei Spezln handelt es sich um den Hamburger Blockflötisten Johann Christian Schickhardt, ein Zeitgenosse und Mitarbeiter Georg Philipp Telemanns, womit die Leitung zum Telefon gelegt ist. Und der „Prete Rosso“, der rote Priester ohne Messverpflichtung ist kein Geringerer als Antonio Vivaldi. Die zahlreich erschienenen Kinder hängen der Erzählerin an den Lippen, die es schafft, sowohl die Kleinen, wie die Grossen zu amüsieren. Christen macht im besten Sinne das, was auch die Schöpfer des „Asterix“ meisterlich beherrschten: Liebevolle, freche Anachronismen einzubauen. Für die Kids ist der Gegenwartsbezug hilfreich, als Bezug zu sich selber. Für die Erwachsenen ist es ein geistreiches Amüsement, um Bildungslücken zu schliessen. Den twitternden Telemann wird so schnell niemand vergessen.
Nach einem Unfall kann Manuela Christen nicht mehr konzertieren. Ihren Kolleginnen und Kollegen ist sie darum erzählend eine liebevoll-freche Sparring-Partnerin. Die Schweizer Rhythmik-Pionierin Mimi Scheiblauer bezeichnete einst die Barockmusik als „objektivstes Gefäss für Gefühle, die noch wachsen.“ Die Autorin dieser Zeilen kennt Manuela Christen schon lange. Deshalb wurde das Interview in der Du-Form geführt.
«Blockflöte war das Instrument für die Jungs, die cool sein wollten.»
Manuela Christen, Musikpädagogin, über das frühe 18. Jahrhundert
Manuela, Du bist gerade 60 Jahre alt geworden. Seit 2016 ist jährlich ein „Zauberblockflötenbuch“ herausgekommen: Das über Deine Heimatstadt Husum und Deinen Landsmann Theodor Storm erscheint im Juli 2019. Dann folgt im Herbst ein weiteres über den Passauer Georg Muffat. Bis 2020 schreibst Du dich nach Venedig zu Antonio Vivaldi. Woher nimmst Du die Energie, die Ideen, die Zeit?
Meine grossartige Familie, der See, mein Haus, meine Bücher unterstützen mich. Kesswil ist ein sehr schöpferischer Ort. Auch wenn ich den ganzen Tag hohe Flötentöne höre beim Unterrichten: Am Bodensee, im Thurgauer Zen-Dorf, so wie ich Kesswil nenne, fahre ich sofort herunter. Es ist ein Kraftort. Ich bin in Husum an der Nordsee aufgewachsen. Das Wasser gehört zu meinem Leben. Als ich in die Schweiz kam, suchte ich sofort einen Ort am See, mit etwas Weite. Zu den Ideen: Die schöpfe ich aus meinem Alltag. Tagtäglich vermittle ich die Musik alter Meister an junge Menschen. Diese Erfahrung verpacke ich in Abenteuergeschichten.
Deine Bücher eignen sich auch für den Unterricht auf der Primar- und der Oberstufe. Das zeitreisende Notenschlüssel-Trio, das sind Jugendliche der Gegenwart, die selber Instrumente spielen. Was empfiehlst du Lehrpersonen, die für wenig klassikaffine Schülerinnen und Schüler den Unterricht gestalten müssen? Musikgeschichte auslassen? Nur Popularmusik bringen?
Das wäre doch zu kurz gedacht. Die kennen sie ja! Wichtig ist es, wohldosiert die Gräben zu überwinden. Vergleiche in die Gegenwart zu ziehen. Die Blockflöte war das „Gentlemen-Instrument“ des frühen 18. Jahrhunderts. Der Spielmann Schickhardt hatte in Hamburg bestimmt viele Fans. Blockflöte war das Instrument für die Jungs, die cool sein wollten. (lacht) Auch Telemann schrieb Tafelmusik, seine so genannte „Bratenmusik“. Es gab ja kein I-Tunes damals, aber man hatte ein Ensemble. Die Unterscheidung „Kunstmusik-Popularmusik“ ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und hält sich hartnäckig bis in die heutige Zeit. Die Schubladen von heute kannten die Musiker damals nicht. Sie hatten andere.
Was transportieren die Biografien längst verstorbener Musiker in unsere Gegenwart?
Die Biografien erzählen von Sehnsüchten, Träumen und Alltagssorgen. Die Musiker lebten mit einer total ausgebeuteten Bevölkerungsschicht zusammen, ihrer Dienerschaft. So viel komponieren, dem Konkurrenzkampf begegnen - das ging nur mit Personal, welches den Haushalt bestellte. Dazu kam noch der heikle Umgang mit der Obrigkeit, siehe Mozart und Fürsterzbischof Colloredo. Auch über die Unterschiede lernen wir, unsere Gegenwart besser zu verstehen. Anekdoten - übrigens meistens verbrieft überliefert - sind der beste Aufhänger. So kann ich auf unterhaltsame Art und Weise die wunderbare Arbeit der Komponisten ehren. Die Meister persönlich hole ich sanft vom Sockel, damit ihnen auf Augenhöhe begegnet werden kann. Das waren Menschen wie wir. Die arbeiteten echt hart. Das Leben war damals physisch viel härter. Die Reisen waren anstrengend. Und sie mussten Wein trinken zum Frühstück, weil das Wasser so schlecht war.
«Die Meister persönlich hole ich sanft vom Sockel, damit ihnen auf Augenhöhe begegnet werden kann.»
Manuela Christen, Musikpädagogin
Wie gehst Du vor bei deiner Arbeit? Hat sich Deine Arbeitsweise seit dem „Notenschlüssel-Trio und die geheimnisvollen Mozarträtsel“ verändert?
Ja, die Bücher sind dicker geworden. (Lacht) Sie entwickeln sich für sich, so wie sich das „Siegel des Minnesängers“ passend zum Konzilsjubiläum als Konstanzer Jugendbuch etablierte. Natürlich mach ich mir ich ein Storyboard - aber die Idee, welcher Komponist wann „dran kommt“, diesen Zeitpunkt setzt mein Leben - und umgekehrt. Viele Inputs geben mir meine Schülerinnen und Schüler. Mir laufen Bilder über den Weg, Anekdoten, auf dem Weg zur Arbeit, beim Unterrichten, wenn ich Menschen begegne. In meiner Heimat Husum sang ich in dem Chor, den der Dichter Theodor Storm leitete. Der Bodensee - meine kleine Nordsee - inspirierte mich zu dem Abenteuer des Notenschlüsseltrios in meiner Heimatstadt. Und der Theodor-Storm-Chor feiert heuer sein 175. Jubiläum. Die drei Zeitreisenden wollten eigentlich zurück zu Ludwig van Beethoven. So verwebt sich die eine Geschichte mit den anderen. Das ist neu. Die Protagonisten aus der Gegenwart, Shenay die Cellistin, der Geiger Simon und Emanuel, der Blockflötist, bleiben in jeder Folge dieselben, wobei sie sich entwickeln, mit den Geschichten etwas wachsen.
So ähnlich wie bei Harry Potter oder den „Drei ???“ also. Der Fokus auf die so genannt klassische Musik wird aber als roter Faden beibehalten. Auf Deiner Website bietest du auch Arbeitsblätter an. Schulmusik- sowie Instrumentallehrpersonen können diese herunterladen. Wie kommt das an?
Ich bin ja schon 46 Jahre als Instrumentalpädagogin unterwegs und breche eine Lanze für mein Instrument, die Blockflöte. Der pädagogische Ansatz ist mir wichtig, die Plattform wird schon rege genutzt, mit über 1000 Downloads. Mein Buch „Das Notenschlüssel-Trio und die magischen Klänge von Husum“ durchläuft jetzt dann eine Testphase in einer Ostschweizer Oberstufe - im Rahmen des Schulmusik-Moduls „Singen und Musizieren“. Ich bin sehr gespannt auf die Rückmeldung, da dies im Klassenunterricht stattfinden wird.
«Das ist echte Liebe. Ist einfach so.»
Manuela Christen, Musikerin, über ihre Beziehung zur Blockflöte
Welches Deiner Bücher ist dein Liebling?
Ich stehe für alle ein. Es ist jedesmal eine andere Situation. Wolferl Mozart, der smarte Liebling. Oswald von Wolkenstein, ein stets kämpfender Ritter mit nur einem Auge. Ludwig, der von seinen Emotionen getrieben wurde. Storm, der als Jurist eine bürgerliche Kleinstadt neben seiner großartigen Literatur auch noch mit Musik zu bereichern suchte. Muffat, der grossartige multiphone Kompositonen schrieb, und dennoch ein Diener des politischen Systems sein musste. Vivaldi, ein ausgebuffter Geschäftsmann, der seine Genialität grandios vermarktete. Sie waren Menschen wie wir. Ich versuche, Facetten ihres Lebens durch die Abenteuer des Zeitreise-Trios für junge Leseratten in ihre Welt zu transportieren. Sie zu Bekannten zu machen, ein wenig wie Facebook-Freunde.
Du brichst eine Lanze für die Blockflöte. Warum?
Ich bin dem Instrument verfallen. Das ist echte Liebe. Ist einfach so. Die anderen Instrumente wollte ich auch lernen. Ich traktierte die Husumer Kirchenorgel ganz ordentlich, spiele Cembalo und mein Sohn spielt Geige. Telemann schrieb einmal: „Gieb jedem Instrument/ Was es leyden kan/So hat der Spieler Lust/Du hast vergnügen dran.“
Bücher von Manuela Christen
Von Manuela Christen sind bereits erschienen, oder erscheinen demnächst:
Das Notenschlüssel-Trio und…
…die geheimnisvollen Mozarträtsel (2016) ISBN 978-3-944854-36-6
…das Siegel des Minnesängers (2017) ISBN 978-3-944854-34-2
…Beethovens Ohrenmaschine (2018) ISBN 978-3-944854-38-0
…die magischen Klänge von Husum (Juli 2019) ISBN 978-3-944854-48-9
… die Friedensprobleme von Passau (November 2019)
… die Vivaldi-Verwicklung (2020)
Mehr zur Arbeit von Manuela Christen auch auf ihrer Homepage: http://www.die-zauberblockfloete.com
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