von Inka Grabowsky, 27.02.2022
Ordnen und Bewahren
Wenn Künstler:innen sterben, bleibt ihr Werk. Zumindest dann, wenn der künstlerische Nachlass gut geregelt ist. Wie das gehen kann, zeigen drei Beispiele aus dem Thurgau. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Willi Oertig ist erleichtert. Über ein Jahr hat der Kradolfer Künstler sein Archiv sortiert: Fotos von seinen rund 1200 Gemälden sind in Ringbüchern abgeheftet. Rechnungskladden belegen, wer wann welches Bild gekauft hat, und ganze Bundesordner sind gefüllt mit Medienberichten aus 50 Jahren Kunstschaffen.
Jetzt kommt der Thurgauer Kunstmuseums-Direktor Markus Landert und holt das Material ab, um es in seinen Depots zu lagern - neben den Nachlässen von Adolf Dietrich, Carl Roesch und Hans Krüsi.
„Willi Oertig steht da in einem guten Zusammenhang“, sagt der Museumsdirektor lächelnd. Oertig war von sich aus mit seinem Angebot an Landert herangetreten: „Ich werde bald 75. In fünf Minuten kann ich am Boden liegen.“ Und zum Wegwerfen nach seinem Tod wären seine gesammelten Materialen nun wirklich zu schade.
Video zu Willi Oertigs Jubiläumsausstellung (2017)
Das kulturelle Gedächtnis der Region im Museum
Landert war dankbar für Oertigs Angebot, unter anderem, weil das Museum im Besitz von neun seiner Werke ist. „Sein Nachlass ist auch deshalb so wertvoll, weil er nach Fotos malt. Wir bekommen jetzt die Abzüge der Originalmotive. Für die Forschung sind so interessante Vergleich möglich.“
Künstlernachlässe seien dann relevant, wenn sie Zusatzinformationen böten. „Das ist spannend für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Bildern. Man zehrt Jahrzehnte von solchem Material. Dieses hier bietet sicher genug Stoff für die eine oder andere Studienabschlussarbeit.“
„Es macht keinen Sinn, beliebig viele Nachlässe ins Museum zu überführen.“
Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau (Bild: Inka Grabowsky)
Das Kunstmuseum Thurgau werde oft gefragt, ob Interesse an einem Nachlass bestehe, aber meist müsse er ablehnen. „Es macht keinen Sinn, beliebig viele Nachlässe ins Museum zu überführen.“ Bei regional bedeutenden Künstlern kann das Kunstmuseum allenfalls einige ausgewählte Werke aus dem Nachlass erwerben, sich aber nicht um alles kümmern.
„Ich bekomme auch Angebote für Schenkungen, kann aber selbst dann nur einzelne Bilder nehmen. Es ist sicher nicht im Sinn der Künstler, wenn ihre Werke nur im Museumsmagazin lagern, ohne gesehen zu werden.“
Landert nimmt deshalb nur die bedeutsamsten Werke in die Sammlung auf und empfiehlt Erben, den Rest auf den Kunstmarkt zu bringen, auch um den Namen bekannt zu halten.
Der Verein „Werk Natale Sapone“
Im Fall des Frauenfelder Malers und Designers Natale Sapone, der 2002 starb, hat Landert selbst 2006 einen Verein als Vermarktungsgefäss mitbegründet. Die ehrenamtlichen Mitglieder kümmern sich um jene Werke, die weder von der Familie beansprucht wurden noch in die Museumssammlung übernommen wurden.
Inzwischen ist Maggia Kopieczek-Boesch Präsidentin ad interim: „Natale Sapone war mein Nachbar, und ich habe bei ihm Kurse besucht“, erzählt sie. „Schon deshalb interessiere ich mich für seine Kunst. Er hat mich an die konkrete Kunst herangeführt.“
Verkaufserlöse werden in Restaurierung investiert
Der Verein übernahm 500 Werke aus dem Nachlass und hat sich zum Ziel gesetzt, sie nach und nach zu verkaufen oder als Leihgaben in den öffentlichen Raum zu bringen. Der Erlös wird genutzt, um beschädigte Bilder zu restaurieren, um Spesen der Marketingaktivitäten zu decken oder um Studierende zu entschädigen, die bei Inventarisierungen von Bildern, Entwürfe und Dokumenten helfen. Das funktioniert gut. Inzwischen sind nur noch 300 Werke übrig.
Maggia Kopieczek ist immer auf der Suche nach Möglichkeiten, Natale Sapones Werk im Gespräch zu halten. „Mir war zum Beispiel aufgefallen, dass seine Kunst ideal in das Wohnbedarf-Geschäft in der Frauenfelder Altstadt passen würde. Also habe ich mich im vergangenen Herbst mit einem Dossier beim Geschäftsführer vorgestellt. Er hat einer Ausstellung zum Jahresende schnell zugestimmt. Es ist ja auch ideal: Die Bilder locken neue Kunden an. Und wenn etwas verkauft wird, dann bekommt der Galerist die Hälfte des Verkaufspreises als Kommission. Für ein 60 x 60 cm grosses Bild können das schon 1500 Franken sein.“ Die Ausstellung im Möbelgeschäft war ein Erfolg. Fünf Bilder fanden bis jetzt ein neues Zuhause.
Hinterbliebene vor grosser Aufgabe
Für Bekanntheit zu sorgen ist die oberste Aufgabe von Nachlassverwaltern. Die Hinterbliebenen von Beat Ermatinger (1951 bis 2018) aus Kaltenbach im Thurgau stellen sich der Herausforderung. „Er selbst hatte nicht aktiv die Öffentlichkeit gesucht“, erzählt seine ehemalige Partnerin Katharina Haller, „stellte auf Einladung gleichwohl gerne und regelmässig aus.“
Neben Einzelbildern schuf Ermatinger Installationen, die Wände und Raum in Beschlag nahmen. Viele Bestandteile der Installationen sind noch vorhanden. „Mit mehr Distanz zeigt sich klarer, welche Objekte Werkcharakter haben und was eher zum Materialfundus zu rechnen ist.“
„Mit mehr Distanz zeigt sich klarer, welche Objekte Werkcharakter haben und was eher zum Materialfundus zu rechnen ist.“
Katharina Haller, Partnerin des 2018 verstorbenen Beat Ermatinger
Auch die gemeinsame Tochter Eva Ermatinger fühlt sich dem Werk verpflichtet: „Die Art und Weise, wie Beat Ermatinger Kunst gedacht und praktiziert hat - gerade auch in seinem Verständnis, dass Kunst eng mit dem Alltag verwoben ist - ist mir sehr vertraut. Bei der Betrachtung seiner Bilder oder Skizzenbücher entsteht bei mir das Gefühl, bei der Interpretation aus dem Vollen schöpfen zu können. Und ich empfinde es als grosses Privileg, ihm auf diese Weise wieder nahe zu sein.“ Die Sichtung und Archivierung eines Nachlasses ist auch Trauerarbeit.
Sichten und Ausstellen
Im Jahr nach seinem Tod organisierte die Familie zusammen mit Künstlerfreunden im Kunstraum Reinart eine Nachlass-Ausstellung. Im früheren Wohnhaus haben sie ausserdem ein Archiv eingerichtet. Weil Ermatingers Art zu arbeiten durch seine über 600 Skizzenbücher gut verständlich wird, gab die Familie ein Faksimile heraus, das bei der Ausstellung gern gekauft wurde.
Nun stellt sich die Frage, wie es mit dem Nachlass weitergehen soll. „Spannend wäre eine Archiv-Website, die einerseits Werke von Beat Ermatinger zugänglich macht und sie in ein neues Medium bringt“, sagt Eva.
„Auch die Auseinandersetzung von Künstlerfreunden mit Beats Werk ist interessant. Das Werk kann auf ganz unterschiedliche Arten interpretiert werden. Eine Weiterführung seines Schaffens unter neuen Vorzeichen hätte ihn gefreut.“
Hilfe von Profis
Um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, hatten Eva Ermatinger und Katharina Haller Sibylle Omlin um Hilfe gebeten. Die Kunstwissenschaftlerin war nicht nur eine gute Bekannte von Beat Ermatinger, sondern bietet das Ordnen eines Künstlernachlasses auch als eine Dienstleistung an.
„Das künstlerische Archiv zu Lebzeiten ist für alle Künstler ein Thema. Es muss vieles dokumentiert werden, um die Öffentlichkeit und den Markt bearbeiten zu können. Ich berate dabei. Und weil die Künstler und Künstlerinnen, mit denen ich arbeite, mit mir älter werden, rutscht gelegentlich das Thema Nachlass in die Beratungen hinein.“
„Wichtig ist die ehrliche Analyse: Wer interessiert sich noch für das Werk?“
Sibylle Omlin, Kunstwissenschaftlerin (Bild: Inka Grabowsky)
Wird Omlin nach dem Tod von den Erben beauftragt, muss sie zunächst klären, welche Ziele sie verfolgen: Geld verdienen oder das Werk zugänglich halten?
Je nach Umfang des Auftrags pflegt sie das Archiv, erstellt das Werkverzeichnis, schafft Kontakte zu Museen oder überlegt, ob eine Stiftung helfen könnte.
„Man braucht dafür allerdings finanzielle Reserven oder eine Immobilie als Grundstock. Wichtig ist die ehrliche Analyse: Wer interessiert sich noch für das Werk? Gibt es genug öffentliches Interesse, kann ich eine Stiftungsurkunde aufsetzen.“
Falsche Vorstellungen der Erben
Mitunter muss die Kunstwissenschaftlerin den Erben erklären, dass für den Nachlass ihres Verwandten nicht automatisch hohe Preise erzielt werden können. „Wer den Kunstmarkt nur durch die Berichte über Rekordversteigerungen bei Christie’s oder Sotheby’s kennt, macht sich schnell falsche Vorstellungen“, sagt sie. Dennoch gibt es einen Markt für Künstlernachlässe.
Die Galerie Hauser und Wirth gilt als einer der grössten Anbieter. „Wer zu Lebzeiten schon gut vernetzt war und aktiv im Kunstmarkt unterwegs, dessen Nachlass wird auch Abnehmer finden“, so die Fachfrau. „War der oder die Verstorbene eher introvertiert und lebte von Privatverkäufen oder nur öffentlicher Förderung, wird es schwieriger.“
Wie eine Beratungsstelle beim Regeln des Nachlasses hilft
Natürlich sind sich die Künstler:innen selbst längt der Problematik bewusst. Die gemeinnützige Stiftung des Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK) betreibt eine Beratungsstelle, hat einen Ratgeber dazu herausgegeben und selbst über 300 schriftliche Nachlässe von Kunstschaffenden im Archiv. Aufnahmekriterium: Das Werk muss in Museen von internationaler Bekanntheit vertreten sein oder die künstlerische Position muss im Kunstbetrieb von der Forschung kontinuierlich befragt werden.
Wenn ein Erblasser das nicht erfülle, müssten die Erben kreativ werden, empfiehlt Sibylle Omlin: „Tage- und Skizzenbücher sind extrem spannend und oft sehr schön. Es könnte auch sein, dass die örtliche Bibliothek sie ausstellen möchte oder das historische Museum.“
Auch für die Verwertung von Kunstwerken rät sie zu Experimentierfreude: „Warum sollte man nicht Bilder auf ebay anbieten?“ Auf der Schweizer Seite der Versteigerungsplattform gibt es über 120.000 Angebote für Gemälde von 1 Franken bis zu 9,4 Millionen.
Vorsorge hilft
Künstler, die sich davor gruseln, dass ihr Werk gegebenenfalls auch unter Wert versteigert wird, sollten mit ihren Erben oder einem Nachlassverwalter Vereinbarungen treffen. „Oft finden sich grosse Werke im Brockenhaus wieder, weil man die Wohnung schnell räumen muss“, meint Omlin.
Für den Thurgauer Maler Johannes Diem ist das tatsächlich belegt: Markus Landert beschreibt das in einer Publikation: Nachdem Diem 2005 in ein Pflegeheim zog, gelangte sein künstlerischer Nachlass ins Brockenhaus Frauenfeld.
Nur einer aufmerksamen Mitarbeiterin war es zu verdanken, dass das Kunstmuseum Thurgau noch wichtige Werke erwerben konnte.
„Es ist wie mit der Patientenverfügung. Man muss sich dabei dem Gedanken an das eigene Ende stellen.“
Sibylle Omlin, Kunstwissenschaftlerin & Nachlassverwalterin
Sibylle Omlin appelliert an die Vernunft der Kunstschaffenden: „Es ist wie mit der Patientenverfügung. Man muss sich dabei dem Gedanken an das eigene Ende stellen. Wer nichts damit zu tun haben will, überlässt der Familie die Mühe.“
Eigentlich seien Künstler prädestiniert, über die Zeit nach ihrem Ableben nachzudenken. „Sie schaffen schliesslich Werke, die überdauern. Frei nach Robert Musil arbeiten sie zu Lebzeiten an ihren Nachlass.“
Von Inka Grabowsky
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