von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 25.06.2019
Finde den Fehler
Mit seinem neuen Werk „Total Recourse“ liefert der Künstler Boris Petrovsky in einer alten Industriehalle in Konstanz jetzt ein hochkonzentriertes Destillat seiner Gedanken zum Zustand unserer Welt. Die Arbeit ist mehr als ein einzelnes Werk: Der Künstler hat damit fast so etwas wie seine eigene Philosophie geschaffen. Vernissage ist am 27. Juni.
Nur mal angenommen, es gebe keine Fehler, keine Störungen mehr in unserer Welt, wäre das eine lebenswerte Welt? Was, wenn wir alles um uns herum und auch uns selbst so sehr optimiert hätten, dass alles seinen Gang ging und wir von nichts mehr irritiert würden? Wäre das die Erfüllung eines Traumes? Oder wären wir damit endgültig in jener „Matrix“ gelandet, die die Wachowskis in ihrem gleichnamigen Film 1999 als Dystopie entwarfen? Das sind allesamt sehr gute Fragen und 20 Jahre nach dem Film holt der Künstler Boris Petrovsky diese (und viele weitere) Fragen in seiner neuen Arbeit „Total Recourse - Im Lauf der Dinge“ aus der Schublade und stellt fest, dass keine davon abschliessend beantwortet ist.
Der aus Konstanz stammende Petrovsky ist der Mann für die grossen, für die komplexen Fragen unserer Zeit. Immer wieder hat er sie in den vergangenen Jahren zum Antrieb seiner Arbeit gemacht. Er will wissen, was Zeichen bedeuten, wie ihre Bedeutungen und damit Wirklichkeit entsteht und welche Rolle wir in diesem Spiel einnehmen. Kurz gesagt: Er will den Dingen auf den Grund gehen. So auch jetzt bei „Total Recourse“. Man könne das durchaus als sein „Opus magnum“ bezeichnen, sagt er im Gespräch mit thurgaukultur.ch. All die Themen, die ihn auch schon bei früheren Arbeiten beschäftigt haben, tauchen hier hochkonzentriert wieder auf.
«Diese Sehnsucht nach Bedeutung, die viele Menschen haben, will ich nicht befriedigen.»
Boris Petrovsky, Künstler
Mehr als vier Jahre hat er daran gearbeitet, in wenigen Tagen ist Vernissage und Petrovsky wirkt ganz und gar nicht müde. Eher kampfeslustig wie immer. „Es geht mir darum, Eindeutigkeiten zu vermeiden. Diese Sehnsucht nach Bedeutung, die viele Menschen haben, will ich nicht befriedigen“, sagt der 52-Jährige. Kunst soll aufrüttlen, die Menschen zum Denken bringen. Leute nur in ihren Haltungen zu bestätigen, Kunst nur für die Filterblase zu machen, wäre ihm ein Graus.
Viel Arbeit, viel Freiheit
Weil das im Kunstbetrieb heute viel zu oft geschehe, so Petrovsky, hat er sich nun für einen Ausstellungsort jenseits dieses Betriebes entschieden: In einer alten Industriehalle, in der schon Firmen wie AEG Telefunken und Siemens wirkten, zeigt er seine neue Installation. Es ist eine Zwischennutzung bevor das Industrieareal plattgemacht wird und ein neues Wohnquartier entsteht. Für Boris Petrovsky ein Ideallfall: „Es ist zwar viel Arbeit, weil ich eben alles selber mache, aber anders als in Galerien oder Museen kann ich es auch genauso umsetzen, wie ich es gerne hätte.“
Tatsächlich fügt sich die Installation perfekt in diesen Raum. «Vorsicht! Elektr. Prüfraum. Unbefugten Zutritt verboten» steht auf einem gelben Warnschild an der Eingangstür. Und wenn man nicht wüsste, dass das hier Kunst ist, könnte man sich auch fragen, ob das rot-weisse Gestänge vielleicht noch Überreste der industriellen Nutzung sind. Möglich wurde das ganze Projekt auch, weil die Stadt Boris Petrovsky dabei unterstützt. Mit Geld einerseits, aber auch mit guten Worten gegenüber dem neuen Eigentümern der Immobilie.
Boris Petrovsky ist nicht dafür bekannt, einen besonders romantischen oder nostalgischen Blick auf sein Schaffen zu haben. Und doch ist diese neue Arbeit für ihn auch aus persönlichen Gründen etwas Besonderes: Sein Vater arbeitete in diesen Räumen, auch viele Bekannte waren hier beschäftigt. „Meine ersten Zeichnungen habe ich als Kind auf der Rückseite von irgendwelchen Schaltplänen gemacht“, erinnert sich der 52-Jährige. Sollte die Forschung dereinst mal danach suchen, weshalb sich Boris Petrovsky so sehr für Zeichen, kybernetische Systeme und ihre Bedeutung interessierte, sie könnte also auch in seiner frühen Kindheit fündig werden.
Nichts hier ist eindeutig. Alles hat mehrere Ebenen
Nun, was steckt hinter „Total Recourse - Im Lauf der Dinge“? Die Arbeit selbst besteht im Wesentlichen aus einer überdimensionalen Schleife aus Schienen auf denen rote und weisse Waggons fahren. 42 Meter lang, aufgeständert auf rot-weissen Fluchstäben aus der Vermessungstechnik, in knapp drei Metern Höhe. Erst von oben erkennt man das ganze Ausmass und die Form der liegenden acht, mithin das Symbol für Unendlichkeit. Die Farben rot und weiss tauchen immer wieder auf. Ein früher Warnhinweis? Kaum vorstellbar, denn zunächst wirkt alles ruhig: Die Waggons kreisen unaufgeregt hintereinander her, alles geht seinen Gang.
Aber dann schleichen sich Irritationen ein. Einige Waggons beschleunigen, andere bremsen ab. Sie fahren mal schneller, mal langsamer. Warum sie sich so verhalten, ist von aussen nicht entschlüsselbar. Zweites Störmoment des Laufs der Dinge: An der Kreuzung könnten die Wagen aufeinander stossen. Das System scheint nicht mehr rund zu laufen, Unregelmässigkeiten tauchen auf. Sind das die Risse in der Matrix, die uns zeigen, dass wir der Illusion eines perfekten Systems aufgesessen sind? Vielleicht ja, vielleicht nein: Wie immer im Werk von Boris Petrovsky kann alles so oder so sein. Die Anzahl der Möglichkeiten ist in seiner Welt letztlich genauso unendlich wie seine Schleifenkonstruktion an und für sich.
Traue keinem System, das vorgibt, fehlerlos zu laufen
Fehler sind für ihn jedoch wichtige Elemente: Sie sorgen für Transparenz, weil sie das System oder das Medium wieder sichtbar machen. Mit Petrovsky könnte man daraus schliessen: Traue keinem System, das vorgibt, fehlerlos zu laufen. Dazu gehört auch, Kontrollmomente zu hinterfragen. Nicht umsonst steht auf einer an ein Beobachtungspult erinnernden Installation das Wort „Kontrollillusion“. Wer diese Station bedient, ob man mit ihr überhaupt den Lauf der Dinge beeinflussen könnte, bleibt offen.
Weil bei Petrovsky nie etwas so eindeutig ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, muss man also tiefer graben. Der Titel „Total Recourse“ ist mehrdeutig. Er ist einerseits selbstreferentiell gemeint, weil der Künstler hier Rückgriffe auf frühere Arbeiten macht. Wer sein Werk kennt, wird Spuren der „Ouroboros“ ebenso erkennen, wie Verweise auf „Das Vergerät“. Rekurs hat darüber hinaus aber auch das Moment der Routine, der Wiederkehr des Immergleichen inne. Im englischen kann „Recourse“ auch ein Refugium sein. Auch hier bei Petrovsky? Die Unendlichkeit als Zufluchtsort? Als Navigationsziel raus aus dem überkontrollierten Alltag? Kann sein. Muss aber nicht. Auch „Total Recourse“ hat am Ende viel mehr mit jedem einzelnen Betrachter zu tun, als der technische Aufbau einen zunächst vielleicht vermuten lässt. Insofern dürfte die Antwort auf all die Fragen höchst unterschiedlich ausfallen.
Beckett, Kafka, Luhmann: Die Verweismaschine läuft auf Hochtouren
Im ganzen Werk wimmelt es nur so von Verweisen auf andere Künstler und Denker: Samuel Beckett („Irgendwas geht seinen Gang“), kafkaeske Erlebnisschlaufen ohne Anfang, ohne Ende, Niklas Luhmanns Systemtheorie und auch Fischli und Weiss’ „Der Lauf der Dinge“ von 1987 erfährt bei Petrovsky gewissermassen eine Aktualisierung. Wurde bei Fischli und Weiss noch die Macht der Linearität gefeiert, glaubt Petrovsky längst nicht mehr an solch einfache Systeme. Handlungen eines Einzelnen gehen bei ihm im grossen Ganzen verloren. Sie haben keinen Effekt mehr, weil sich das System scheinbar verselbständigt hat und der menschlichen Kontrolle entzogen ist.
Man kann an „Total Recourse“ verzweifeln, weil immer, wenn man einen Bedeutungszipfel glaubte gefasst zu haben, sich wieder fünf neue mögliche Anknüpfungen und Deutungen ergeben. Aber gerade diese Offenheit, diese wehrhafte Nicht-Zuordnungsbarkeit macht die Arbeit auch so stark. Man kann dem Künstler als Suchenden über die Schulter schauen. Denn Gewissheit ist etwas, das es im Universum von Boris Petrovsky nicht gibt: „Wenn alles klar wäre, dann hätte ich das Ding nicht gebaut“, sagt er.
Vom perfekten System direkt in den Totalitarismus
Dennoch: Bei allem Willen zur Mehrdeutigkeit, lässt sich am Ende vielleicht doch so etwas wie eine Warnung aus dem Werk herauslesen: Wer ehrgeizig an der Erschaffung eines perfekt funktionierenden Systemen arbeitet, der muss sich nicht wundern, wenn er eines Tages in einem totalitären System aufwacht. Aber vielleicht ist auch das nur eine weitere Projektion des Rezensenten auf das Werk des Künstlers.
Termin: Die Ausstellung „Total Recourse - Im Lauf der Dinge“ wird am Donnerstag, 27.Juni, 19 Uhr, eröffnet. Ort: Ehemaliges Siemens-Gelände, Gebäude 5, Bücklestrasse 1-5, Konstanz. Richard Tisserand vom Kunstraum Kreuzlingen führt bei der Vernissage in das Werk ein. Insgesamt wird die Ausstellung bis 22. September zu sehen sein. Geöffnet: freitags 13 bis 20 Uhr, samstags 11 bis 20 Uhr, sonntags 11 bis 18 Uhr. Eintritt: 4 Euro.
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