von Rahel Buschor, 26.01.2024
Arbeitstools: meine Werkzeugkiste
Meine Leben als Künstler:in (7): Was, wenn die Inspiration verblasst? Die Tänzerin Rahel Buschor verrät uns in ihrer Kolumne, wie sie die magischen Momente der Inspiration nutzt und welche Arbeitstools sie am liebsten benutzt. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Am Anfang war eine Idee: ein Duft, eine Bewegung, ein Ton, eine Irritation, eine Faszination, eine Frage. Dieses «Etwas», das meine Aufmerksamkeit verlangt.
Diesem «Etwas» nähere ich mich schichtweise, umkreise es und dringe so in immer enger führende Ringe vor. Es ist wie das Schälen einer Zwiebel.
Die Annäherung beginnt intuitiv: suchen, lesen, schauen, probieren, hören ... Erste Eindrücke oder Puzzleteile sammle ich meist, ohne zu wissen, worauf ich mich einlasse, wohin das führen wird.
Mind Map – (Land)karte der Gedanken
Kunstprojekte beginnen – zumindest bei mir – chaotisch. Eines meiner Lieblingsarbeitstools ist das Mapping. Mind Maps helfen mir, Ordnung und Struktur in Gedanken und Ideen zu bringen. Das gesammelte Material – seien es Ideen, Themen, Gedanken, Texte, Bruchstücke von etwas, Bewegungen, Klänge, Visuelles, Worte, Fundgegenstände, (Natur)Materialien, etc. – füge ich zu einer Art Karte zusammen. Diese vorerst nicht zusammenhängenden Fragmente werden in Beziehung zueinander gebracht. Was zuvor wild durcheinander in meinem Kopf und in meiner Umgebung umherschwirrte, wird greifbarer: Das Gehirn ordnet assoziativ die verschiedensten Kategorien von Eindrücken, erstellt Themengebiete und Gruppen. Eine Mind Map hat in der Regel eines oder mehrere Kernthemen oder Themengebiete, zu denen ich forsche. Manchmal beginnt der Prozess mit einem Brainstorming, einem unsortierten Sammeln von Begriffen. Je tiefer ich in ein Projekt eintauche, desto detaillierter entwickelt sich die Struktur der Karte. Meist erstreckt sich dieser Prozess über eine ganze Reihe verschiedener Mind Maps zum gleichen Projekt. Das Mapping geschieht bei mir in der Regel von Hand. So fliessen die Gedanken direkt zu Papier.
«Was für Spuren hinterlässt (meine) Bewegung? Was bleibt, wenn die Bewegung nicht mehr sichtbar ist?»
Rahel Buschor, Tänzerin
Sammeln und recherchieren
Für gut acht Jahre lebte ich in Asien, im Januar 2020 zuletzt im südkoreanischen Seoul. Praktisch von einer Woche auf die andere lösten sich alle meine Projekte und Engagements in Luft auf. Nach einigen Wochen wurde mir klar, dass ich dringend Arbeit brauchte. So kam ich zurück in die Schweiz. Auch hier stand das Kulturleben still. Nach so langer Zeit im Ausland fühlte ich mich wie eine Fremde, hatte keine Ahnung vom hiesigen Kulturschaffen und kein Netzwerk, auf das ich hätte zurückgreifen können. Doch das Glück war mir wohlgesinnt: Während dieser herausfordernden Zeit wurde meine Arbeit mit einem Förderbeitrag des Kanton Thurgau unterstützt. Das hielt mich finanziell über Wasser und bei der Arbeit.
Mein Hauptarbeitsinstrument ist mein Körper, meine Kunst lebt von Live-Momenten. Die Bewegung, der Tanz sind flüchtig und im nächsten Moment schon wieder weg. In dieser Zeit machte ich mich auf die Suche nach dem Bleibenden in meiner Kunst: Was für Spuren hinterlässt (meine) Bewegung? Was bleibt, wenn die Bewegung nicht mehr sichtbar ist?
Es stellten sich auch grössere Fragen: Welche Spuren hinterlasse ich/wir auf dieser Erde? Und damit: Welche Spuren möchte ich hinterlassen – mit meiner Kunst, mit meinem Leben?
Mit blossem Körper, ohne Materialien oder einem geeigneten Proberaum machte ich mich auf die Suche: Nach Spuren von Bewegung. Meine ersten praktischen Recherchen führten mich in den Keller meiner damaligen Mietwohnung. Ich tanzte mit nassen Socken auf dem nackten Betonboden und hinterliess Spuren. Darauf folgten tägliche Experimente mit Kalligrafie, Tinte, Farben, Kohle, Lehm, auf unterschiedlichen Untergründen, draussen, drinnen, in der Stadt, am Flussufer .... Ich suchte nach neuen Perspektiven und Facetten der Bewegung und des Bewegten.
Ich sammelte alles, was mir zu diesen Spuren begegnete: Texte, Zeitungsartikel, Forschungsbeiträge, Bilder, Videos, recherchierte über Personen, die sich mit Ähnlichem befasst haben, entdeckte Spuren in der Natur, unterhielt mich mit Freund:innen, Fremden und Wissenschaftler:innen.
Recherche und Forschung sind wahnsinnig spannende Phasen eines Projektes. Es werden alle möglichen Facetten eines Gebietes, hier für mich dasjenige der «Bewegungsspuren», erkundet und erforscht. Es gibt Raum zum Spielen, Geniessen, Verweilen, Blödeln, Riskieren, Verwerfen. Alles ist erlaubt und interessant. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wird sortiert und ausgewertet, welche der vielen potenziellen Bausteine weiterverfolgt, ausgebaut und entwickelt werden.
Recherche und Dokumentationen künstlerischer Prozesse:
Diese Prozesse dokumentiere ich. Gerade weil die Bewegung so flüchtig ist, ist es mir wichtig, konkretes Material zu haben. Weiter arbeite ich mit Playlists, wo ich Musik und Sounds zu den jeweiligen Themen abspeichere, und natürlich mit Videoaufnahmen.
Kontinuität – langsame Inspiration «Mindfullness» als Werkzeug
In meinem letzten Beitrag «Kreativität für alle» schrieb ich, dass kreative Techniken gelernt werden können. In kreativen Berufen ist es wichtig, eine Art «Gewohnheit der Inspiration» zu kultivieren. Ich nenne das die langsame Inspiration, da wir uns auf das, was allgemein unter «Inspiration» verstanden wird, nicht immer verlassen können. Dazu gleich mehr.
Ein Tool, das ich gerne nutze, heisst «the attention habit» und kommt ursprünglich aus der bildenden Kunst. Es geht darum, die Wahrnehmung für ein bestimmtes Thema zu schärfen und sich regelmässig wie auch über einen bestimmten Zeitraum mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Ich beschäftige mich mit Spuren von Bewegung. Dazu beobachtete ich zum Beispiel während eines Monats täglich die Schatten, welche die Jalousien in meinem Zimmer auf den Boden geworfen haben. Die Schatten veränderten ihre Form sowie ihren Ort im Verlaufe des Morgens. Diese Beobachtungen brachten mich mit den natürlichen Rhythmen der Natur in Verbindung, mit abstrakten Formen und deren Veränderungen, mit Raumwegen etc. Daraus entstanden neues Bewegungsmaterial und eine Choreografie.
Kollaboration mit Inspiration
Inspiration ist etwas Magisches. Sie stösst Türen zu neuen Sphären auf, verknüpft scheinbar Unzusammenhängendes spielerisch, lässt Utopien Form annehmen.
So magisch die Inspiration ist; sie ist eine unzuverlässige Partnerin. Manchmal lässt sie sich wochenlang nicht blicken, um dann in den unmöglichsten Momenten aufzutauchen. Die Inspiration gleicht für mich einem fliegenden Himmelskörper. Sie taucht unverhofft auf, fliegt spektakulär, mit Feuer und Funkenschweif. Es ist faszinierend, ihr zuzuschauen. Die Inspiration kümmert sich nicht darum, was möglich ist und was nicht. Das ist nicht ihre Aufgabe. Für sie ist alles möglich. Sie will Spass haben, Regeln brechen, Grenzen ausloten, Bestehendes auf den Kopf stellen, herausfordern, geniessen - und dann wieder verschwinden. Manchmal verschwinden diese Himmelskörper, wie sie aufgetaucht sind. Manchmal landet einer wie durch Zauberhand in meiner Nähe. Einmal auf festem Boden angekommen, gleicht der Himmelskörper nach dem Abkühlen einem leblosen Gesteinsbrocken. Der Zauber ist erblasst. Jetzt geht es darum, die Inspiration, beziehungsweise die Idee, die sie mitträgt, zum Leben zu erwecken. Das ist die Aufgabe der Künstlerin.
The work versus the flow
Sowohl Techniken und Tools als auch Forschungsaspekte gehören zum Kunstschaffen - sie sind solide und funktionieren immer, unabhängig von der Verfügbarkeit von Sternschnuppen und Himmelskörpern. Daneben gibt es sie, diese magischen Momente der Inspiration, wenn alles plötzlich zusammenfliesst und einen Sinn ergibt. Alle diese Facetten gehören zum Alltag von Kunstschaffenden, sie machen die Arbeit vielseitig, interessant und oft unvorhersehbar.
Diese Verbindung zu den Himmelskörpern und deren Manifestation auf der Erde ist für mich ein essenzieller Aspekt des künstlerischen Tuns. Es ist beglückend, diese Arbeit in Form von Sternstunden mit anderen Menschen, mit einem Publikum teilen zu dürfen.
Mehr zu kreativen Prozessen und wie sie dem Rhythmus der Jahreszeiten gleichen, kannst du hier lesen.
Es geht weiter! Zweite Staffel der Serie «Mein Leben als Künstler:in» läuft!
Die zweite Staffel der Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in» ist gestartet. Dieses Mal schreiben diese vier Künstler:innen Geschichten aus ihrem Leben:
- Simone Keller, Pianistin
- Simon Engeli, Schauspieler, Regisseur, Theatermacher
- Rahel Buschor, Tänzerin
- Sarah Hugentobler, Videokünstlerin
Alle Beiträge der ersten Staffel gibt es gebündelt im zugehörigen Themendossier.
Die Idee: Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.
Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.
Bereits zwischen Juni und Oktober hatten die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit berichtet. Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier
Von Rahel Buschor
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Kommt vor in diesen Ressorts
- Kolumne
Kommt vor in diesen Interessen
- Tanz
Ist Teil dieser Dossiers
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