von Rahel Buschor, 19.04.2024
Es muss im Leben mehr als alles geben
Mein Leben als Künstler:in (19): Die Tänzerin Rahel Buschor schreibt über einen Tag im Leben einer Künstlerin. Diese Mal speziell für Kinder. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Um ganz ehrlich zu sein: bei den meisten Berufen kann ich mir nicht richtig vorstellen, was da die Menschen den ganzen Tag lang machen. Dank dieser Kolumnenreihe bekam ich einen sehr schönen Einblick, was Künstlerinnen und Künstler beschäftigt, und wie und was sie arbeiten. Dafür bin ich sehr dankbar!
Meine letzte Kolumne ist für Kinder geschrieben. Ich erzähle, wie ein Tag in meinem Leben aussehen kann.
Ich bin Künstlerin. Am liebsten arbeite ich mit Bewegung, mit Tanz und mit Musik. So kann ich Dinge erzählen, die ich mit Worten nicht ausdrücken kann. Daneben experimentiere ich auch gerne mit Farben, zeichne, modelliere und gestalte mit Materialien aus und in der Natur.
Besonders gerne koche ich. Da macht das Experimentieren mit Farben, Formen, Geschmäckern und verschiedenen Zutaten besonders Spass. Und meistens entsteht dazu noch etwas Feines zum Essen. Einmal habe ich in einem Restaurant einen schönen Satz gelesen: „Kochen ist die Kunst des Alltags. Im Museum ist sie eher selten anzutreffen.“ Meine Kunst ist auch eher eine Kunst des Alltags, und nicht im Museum anzutreffen. Sie gehört zu mir wie Essen und Schlafen.
In meinem Leben habe ich schon viele verschiedene Berufe ausprobiert: Gärtnerin, Bäuerin, Köchin, Tierpflegerin, Kellnerin, Lehrerin im Zirkus, Bootsvermieterin auf dem Zürichsee, Peking Oper Schauspielerin in China, Museumsaufsicht, Vermittlerin am Theater, u.a.
Bis heute ist es so, dass ich mein Lebensunterhalt mit verschiedenen Berufen verdiene.
Kochen zum Frühstück
Meistens stehe ich am Morgen vor der Sonne auf. Ich geniesse die Stille. Wenn ich die Fenster öffne kann ich dem Gesang der Vögel und dem Rauschen des Bächleins lauschen, das neben dem Haus durch fliesst. Gerne mache ich Atemübungen und Yoga.
In meiner Familie kochen wir meistens schon zum Frühstück. In China habe ich gelernt, wie wichtig ein gutes Frühstück ist. Dort gibt es schon am Morgen nahrhafte Suppen, mit Gemüse gefüllte Brötchen, Tofunudeln, schwarze Bohnenmilch mit Sesam und andere Köstlichkeiten. Bei einem herzhaften Frühstück kommen mir oft gute Ideen zugeflogen, und manchmal ist der Übergang vom Frühstück zur Arbeit fliessend. So war das auch heute.
Arbeiten
Zusammen mit dem Schauspieler Hongsoo aus Korea entwerfe und probe ich ein Stück für das kommende Tanzfestival in Winterthur.
Die Geschichte haben wir schon fertig geschrieben. Der Affenkönig O-Gong wurde vom Himmelskönig nicht zu einer grossen Party eingeladen. Darum war O-Gong stinksauer. Vor lauter Wut ging er in den königlichen Garten, um von den Pfirsichen der Unsterblichkeit zu stibitzen. Im Dunkeln kommt es zu einem Kampf mit dem Wächter des Gartens. Doch mitten im Kampf erkennt der Wächter den Affenkönig. Sie versöhnen sich und der Wächter schenkt ihm viele Pfirsiche.
Die Idee von Kampf im Dunkeln haben wir von einer Peking Oper übernommen. In einem sehr bekannten Stück mit dem Titel „Die Kreuzung“ gibt es eine Kampfszene im Dunkeln. Sie ist spannungsgeladen und gleichzeitig sehr komisch, da die beiden Kämpfenden sich nicht sehen können. So verpassen einander immer wieder ganz knapp, gehen genau nebeneinander vorbei oder laufen sich direkt in die Arme.
Erst heute bei der Probe habe ich verstanden, was dieser Kampf im Dunkeln eigentlich bedeutet. Wenn wir kämpfen oder streiten, sind wir eigentlich immer im Dunkeln. Das heisst nicht, dass es kein Licht hat. Es hat nur kein Licht in unserem Inneren. Das bedeutet, wir können unser Gegenüber nicht verstehen. Darum streiten wir. Das sagt auch ein indianisches Sprichwort: „Gehe hundert Schritte in den Schuhen eines anderen, wenn du ihn verstehen willst.“
Heute entwickeln wir Bewegungen zu diesem Teil. Manchmal haben wir Superideen und kämpfen drauflos. Doch wenn wir es wiederholen wollen, haben wir schon wieder einen Teil vergessen. Darum repetieren wir kleine Teile immer wieder, bis wir sie erinnern. Oder wir machen ein Video von längere Sequenzen und schauen danach, welche Teile uns gefallen. Diese üben wir dann.
Das ist ein wenig wie ein Haus zu bauen. Zuerst werden das Fundament und ein Gerüst gebaut, dann kommen verschiedene Schichten und Stockwerke dazu, und am Schluss ein Dach, Verzierungen, Balkone, Pflanzen, etc.
Unsere Choreografie, das bedeutet ein Bewegungsablauf, ist am Anfang auch wie ein Gerüst, mit der Zeit wird sie detaillierter und am Schluss schmücken wir alles aus.
Pausen
Wenn ich sehr vertieft bin in eine Arbeit, vergesse ich sie manchmal, obwohl sie wahnsinnig wichtig sind: die Pausen…
Die andere Arbeit
Heute Nachmittag unterrichte ich an der Hochschule der Künste in Zürich. Dort lernen junge Menschen, die Künstlerinnen oder Künstler werden wollen, und solche die gerne Kunst unterrichten. Wir sprechen darüber, warum Musik so wichtig ist, besonders für Kinder. Wusstest du, dass Musik im gesamten Gehirn stattfindet und nicht nur in einem bestimmten Teil? Musik besteht aus Rhythmus, Klang, Harmonie, Melodie, Texten, …
All diese Elemente werden in verschiedenen Arealen des Gehirns verarbeitet. Darum ist Musikmachen eine Art Gehirnfitness. Heute wissen wir, dass Menschen am besten lernen, wenn das Lernen mit einer Handlung verbunden ist. Das bedeutet, dass wir nicht nur auf einen Bildschirm schauen oder etwas auf einem Papier lesen, sondern dass wir etwas machen dazu. Darum bauen wir heute ein grosses Gehirn aus verschiedenen Materialien.
Superpower früh schlafen
Nach einem vollen Tag wie heute gehe ich früh schlafen, da ich am nächsten Morgen gerne früh aufstehe.
Vor dem Schlafen gehe ich in Gedanken nochmals meinen Tag durch, und zwar rückwärts. Das ist lustig, wie ein Rückwärtskino. Ich bin dankbar für alles was schön war, und für alles was schwierig war. Ich bin dankbar, für alles was ich lernen durfte.
Wenn mich die Kämpfe des Affenkönigs doch bis ins Bett verfolgen, habe ich einen geheim Trick: Ich atme ganz ruhig und tief und verfolge meine Ein- und Ausatmung ganz genau. So kann mein Gehirn abschalten und ich schlafe meistens nach ein paar Atemzügen ein.
Es geht weiter! Zweite Staffel der Serie «Mein Leben als Künstler:in» läuft!
Die zweite Staffel der Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in» ist gestartet. Dieses Mal schreiben diese vier Künstler:innen Geschichten aus ihrem Leben:
- Simone Keller, Pianistin
- Simon Engeli, Schauspieler, Regisseur, Theatermacher
- Rahel Buschor, Tänzerin
- Sarah Hugentobler, Videokünstlerin
Alle Beiträge der ersten Staffel gibt es gebündelt im zugehörigen Themendossier.
Die Idee: Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.
Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.
Bereits zwischen Juni und Oktober hatten die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit berichtet. Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier
Von Rahel Buschor
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