von Stefan Böker, 08.05.2024
In jedem Winkel steckt Kultur
Lachen, reden, staunen: Was Kultur bedeutet, hat die Kulturbühne rund um Wil in den vergangenen zehn Tagen eindrucksvoll und vielfältig gezeigt. Eine Reise zu engagierten Menschen. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Zur Kobesenmühle läuft man besser zu Fuss oder radelt mit dem Velo hin. Für Autos ist der enge Schotterweg, der erst unten, kurz vor dem Golfplatz, zur geteerten, verwitterten, verschlungenen Strasse wird, nicht wirklich gedacht. Im mehrstöckigen Fachwerkhaus unterhalb von Niederhelfenschwil lebte und wirkte bis in die Mitte der 70er Jahre der eigenwillige Künstler Wilhelm Lehmann.
Eine Stiftung kümmert sich heute um seinen Nachlass, das Haus, die Galerie mit wechselnden Ausstellungen, den bezaubernden Garten (ein Kunstwerk für sich) und dazugehörige Gebäude wie die ehemalige Schreinerei. Ein Paradies, ein Kraftort inmitten lauschiger Natur. Der Bach rauscht, Vögel zwitschern, Kühe und Schafe bimmeln mit ihren Glocken um die Wette.
Am Sonntag war ein Liebling der Nation zu Gast: Gardi Hutter. Gibt es hierzulande Menschen über 40, die nicht Fan der international und mit vielen Preisen ausgezeichneten Clownin und Komödiantin sind? Wohl eher wenige.
«Ich war einfach wütend, wusste aber nicht warum. Feministische Bücher gaben meiner Wut eine Stimme.»
Gardi Hutter, Clownin
«Trotz allem» heisst Gardi Hutters Biographie. Stilecht auf statt am Tisch sitzend, unterhielt sich Autorin Denise Schmid mit der berühmten und nicht weit entfernt aufgewachsenen Künstlerin. Das Publikum war zahlreich, Stühle wurden hinzu gestellt, und als es kurzzeitig regnete, rückten alle unter dem Pavillon zusammen. Gardis Anekdoten und Bonmots brachten die Gäste reihenweise zum Lachen. Es ging um ihr Leben, um das «Trotz allem», um die Umstände, trotz derer sie zur Ikone wurde.
Aufgewachsen als drittes von vier Kindern und einziges Mädchen in einer konservativen Familie wurde sie bereits als 12-Jährige in einem katholischen Internat untergebracht. Daheim habe sie sich am Wohlsten gefühlt, wenn sie mit ihren Brüdern im Wald spielen durfte. «Dann durfte ich nämlich sein wie ein Bub», erinnerte sie sich. Im Internat: kaum Luft zum Atmen. «Maitli galten als schmutzig, als minderwertig – aus heutiger Sicht wahnsinnig», beschrieb sie den herrschenden Zeitgeist.
Der Duft von Freiheit
«Wenn ich jungen Menschen von den damaligen Konventionen erzähle, bekommen diese grosse Augen. Frauen durften nicht einmal Hosen tragen.» Dennoch war sie gern im Internat. Den Duft von Freiheit und Revolution schnupperte die junge Frau in der linken Szene von St. Gallen. «Da ist eine Welt aufgegangen.»
Nachdem es zu einem Polizeieinsatz wegen der Zeitschrift «Roter Gallus» kam, sorgte sich die Mutter selbstverständlich und klingelte nicht selten frühmorgens in der Wohngemeinschaft, um nach der Tochter zu sehen. «Wir lasen Marx und waren naiv.» Und: «Die Zeiten waren einfacher: Wir wussten, wer der Feind ist», erinnerte sich Gardi Hutter.
Ihre Ausbildungsjahre führten sie nach Zürich, Mailand, Paris. «Selbstgewählte Armut», bezeichnete sie ihren Lebensstil. Strassentheater neben professioneller Ausbildung. «Wir waren arm, wurden dafür reich an Inhalt beschenkt. Wir wollten Theater neu erfinden.» Danach kam der Erfolg und ein buntes, aktives Leben als Künstlerin, Familienfrau, die ihre Kinder mit auf Tournee nahm, und, nach der Trennung ihres Partners Ferruccio Cainero, als Single-Mutter.
Alles anstrengend, alles lohnend – «ich war oft müde, aber nie deprimiert» – ein reiches Leben. Es gab grossen Applaus nach dem anregenden Gespräch und den vorgelesenen Passagen aus dem Buch.
Das Publikum ist glücklich
Zita Meienhofer, Leiterin der Bibliothek Sproochbrugg und Mit-Organisatorin, war begeistert, dass so viele Gäste aus der Ostschweiz anreisten. Und von Gardi Hutter natürlich. «Sie ist ein Vorbild, eine sehr coole Frau. Ihr Mut beeindruckt mich.» Ruth Wisner aus Wil brachte Besuch aus dem Tessin mit. «Wir haben uns im Erzählten wiedererkannt», freute sie sich.
Hergeradelt waren Priska und Beat Rieser-Karrer aus Zuzwil, welche die Gelegenheit nutzten, die Umgebung zu erkunden. «Hier kann man immer wieder etwas Neues entdecken, dieser Ort – das Museum, der Garten – sind so inspirierend.»
Der letzte Eindruck aus Niederhelfenschwil sind Golfer in Golferkleidung, die ihre Golfschläger über raspelkurz geschnittenen Rasen zum Abschlag schieben. Ein krasser Gegensatz zur gerade erlebten Atmosphäre, wie der Wechsel in eine andere Welt, plötzlich gibt es wieder Regeln, Ordnung, Wettbewerb. Tristesse. Nächste Station: Zuzwil.
Zuzwil präsentiert sich facettenreich
Angekommen in Zuzwil wird Kultur abwechslungsreich und auch durch den Gaumen zelebriert. Die Gemeinde hat auf dem Schulareal ein Fest der Nationen auf die Beine gestellt. Interessierte bewundern das Musikinstrument «Anklung» aus Java. Eine Frau im Kimono führt «Ikebana» vor, die Kunst des Blumensteckens.
Fast jeder Stand bietet Spezialitäten aus dem präsentierten Land oder der präsentierten Region an. Cheryl Doherty verteilte Süssigkeiten aus Down Under, unter anderem selbstgebackene Anzac-Biscuits. Sie ist ist in Zuzwil aufgewachsen, erst im Januar hat sie mit ihren Kindern den Teil der Familie besucht, der in der Nähe von Melbourne wohnt. Freunde helfen ihr am Stand.
Es gibt Informationen zuhauf über Land, Tiere und Leute sowie einen Basteltisch für Kinder, an dem die Kleinen unter anderem Bumerangs ausmalen können. Mit Besucherinnen und Besuchern entspannen sich Gespräche über deren eigene Erfahrungen in Australien.
Die Sorgen der Olivenbauern
So richtig aufgetischt haben die Ukrainerinnen. Ralph Egeter aus Zuzwil hat es sich vor ihrem Stand gemütlich gemacht und Teigtaschen gekostet, gefüllt mit Kartoffeln und Pilzen. «Meine Frau Susanne engagiert sich in der Flüchtlingshilfe und hat mitgeholfen», sagt er, geniesst das Ambiente und plaudert mit Freunden. Später will er noch weitere Köstlichkeiten probieren, aber Zeitdruck, Zeitdruck besteht nicht.
Über einer selbstgemachten Zitronenlimonade berichtet Andrea De Giosa aus Apulien. Es sind nicht nur schöne Informationen, die sie weitergibt. Das Sterben der Olivenbäume in Salento, im Süden der Region, hat verheerende Auswirkungen. Ein Feuerbakterium infiziert Bäume, welche teils Jahrhunderte alt sind. Die Bäume verwelken, ihre Blätter verdorren und die Früchte vertrocknen. Die wirtschaftlichen wie auch sozialen Folgen sind intensiv; viele Familien leben seit Generationen vom Olivenanbau. Vielerorts sei nur noch totes Land vorhanden, sagt Andrea De Giosa, und zeigt Bilder.
Ihre Familie hat den eigenen Hain mittlerweile gerodet. Vielleicht finden sich resistente Sorten, die man neu anpflanzen könnte. Hoffnung besteht, doch es erfordert Anstrengungen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene, um das Herzstück der Landwirtschaft und Kultur Apuliens, den Olivenanbau, zu retten.
«KikeriKI» – Kunst mit künstlicher Intelligenz
Mit gemischten Gefühlen geht es also weiter nach Kirchberg. In der 8000-Seelen-Gemeinde lockte eine Kunstausstellung auch am letzten Tag der «Kulturbühne» Gäste von nah und fern an. Ihr übergeordnetes Thema war Künstliche Intelligenz. Maler Erich Brocker ist gerade im Gespräch mit Gästen.
Ein grossformatiges Bild entstand nach einem Rohrbruch, weil dreckiges Wasser über die Bildfläche floss. Er stellt Zufallswerke in Postkartengrösse aus, denen er alle intuitiv einen Namen gegeben hat. Gäste konnten selbst testen, ob ihre Namensgebung mit der des Künstlers übereinstimmte. Darüber hinaus konnten sie die Bilder in die Suche von Google Lens eingeben, deren Resultate zeigte, was eine künstliche Bilderkennung interpretierte. Ein interessanter Versuch über die Art und Weise, wie wir (oder die KI) ästhetische oder mit Bedeutung aufgeladene Strukturen wie Schriftzeichen wahrnehmen.
An der Ausstellung «KIkeriKI» waren insgesamt 14 Künstlerinnen und Künstler beteiligt. Zu sehen gab es Malerei, Fotografien, Skulpturen und mehr. Erich Brockers Fazit war positiv: «Das Rahmenprogramm trug dazu bei, dass die Ausstellung gut besucht war. Und Besucherinnen und Besucher aus Kirchberg kamen sogar an mehreren Tagen.» Iris Rutz aus Kirchberg jedenfalls genoss den Rundgang durchs Gewerbehaus. «So viele schöne und verschiedene künstlerische Beiträge. Ich bin beeindruckt, wie viel kreative Menschen in Kirchberg leben», lobte sie.
Wo Generationen sich finden
Zum Abschluss dieser «Kul-Tour» über die Dörfer reise ich weiter nach Tobel-Tägerschen in die Komturei. Ein ehrwürdiges Gebäude, ein Baudenkmal – ein ehemaliger Knast auch noch – von einer Stiftung betrieben, dessen Restaurant hauptsächlich für private Events gemietet wird. Zusätzlich gibt es ein kleines öffentliches Programm. Beispielsweise findet dort bis einschliesslich Oktober jeden ersten Sonntag im Monat Brunch mit Kinderprogramm statt.
An diesem letzten Tag der «Kulturbühne» gab es das Kindertheater «Putzfrau Luise macht Zoff im Zoo» zu sehen. Eltern hatten es sich mit Kaltgetränken in der Sonne gemütlich gemacht, während ihre Kinder gebannt das Geschehen auf der Freiluftbühne verfolgten, im Hintergrund Wiesen mit blühenden Butterblumen.
Die Schauspielerinnen Conni Stüssi, Judith Widmer und Marianne Herzig wussten ihr Publikum mit lustigen Verkleidungen, Musik mit Tuba, Quetschkommode und Banjo sowie Slapstick in ihren Bann zu ziehen. Das begeisterte auch Erwachsene. Oder wie es Sarah und Andreas Biedermann aus Frauenfeld ausdrückten, die mit Sohn und Tochter angereist waren: «Wir mussten richtig lachen. Das war ein starkes Programm.»
Für Mike Sarbach, Präsident des «Kulturbühne»-OKs, war die dritte Durchführung mit etlichen Veranstaltungen über 10 Tage hinweg ein Erfolg mit durchweg positivem Feedback. Einzelne Veranstaltungen hätten einen regelrechten Ansturm erlebt, beispielsweise das Theater des «Fahrwerk Ö» oder «Wil rockt!», «KikeriKI», das Plakatmuseum oder «Meine grösste Grenzerfahrung» im Cinewil. Der OK-Chef bekräftigt darum: «Das bestärkt uns, eine vierte Ausgabe anzugehen.»
Von Stefan Böker
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