von Urs Oskar Keller, 29.08.2025
Im Sonderzug mit Willy Brandt

Auf seiner letzten Wahlkampfreise im Dezember 1986 weilte der damalige SPD-Vorsitzende und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt (1913–1992) in Konstanz. Brandt war einer der bedeutendsten Politiker der Bundesrepublik Deutschland. Für die Ostschweizer Medien berichtete Fotoreporter Urs Oskar Keller über Brandts Aufritt im Konstanzer Konzil. Anschliessend lud ihn dieser zu einem Gespräch in den Sonderzug ein. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Der Sonderzug der SPD stand am Gleis 1 – er brachte den prominenten Politiker und seinen Tross später wieder nach Bonn. Einige Bahnpolizist:innen und Sicherheitsbeamte in Zivil standen nervös beim eingenebelten Konstanzer Hauptbahnhof. Im Speisewagen wurde bereits das Bier kühlgestellt. Kurz vor zwanzig Uhr hatte der Konstanzer Bürgermeister Ralf-Joachim Fischer den Parteifreund Willy Brandt und seine Genoss:innen am Hauptbahnhof empfangen und zu Fuss ins Konzilgebäude begleitet. Über 1500 Personen waren zur Wahlveranstaltung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) gekommen. „Willy, Willy!“, riefen viele, als sich Willy Brandt, der „deutsche Kennedy“, und seine Entourage langsam einen Weg durch die Menschenmenge zur Bühne bahnten.
Eine fesselnde Rede im Konstanzer Konzil
In seiner einstündigen, fesselnden Rede ging Brandt in Konstanz kritisch auf aktuelle Themen wie die Verseuchung des Rheins oder die Entspannungspolitik ein. In Konstanz wollte er aber vor allem auch den damals jüngsten Bundestagskandidaten der SPD, Walafried Schrott – damals Stadtrat in Singen – unterstützen, der wenig Hoffnung auf einen Platz im Bundestag haben durfte.
Spontane Einladung in den Sonderzug
Anschliessend luden mich Willy Brandt, damals 72, und sein Tross spontan zu einem Gespräch in den Speisewagen ein. Über den Anlass berichtete ich damals für Ostschweizer Medien („Thurgauer Volksfreund“, Kreuzlingen: „Von Tscherno-Basel bis Harald Naegeli“). Selbst für routinierte Journalist:innen waren die 1980er-Jahre eine aufregende Zeit. Die Begegnung mit Brandt damals war zwar kurz, aber intensiv, denn der Wahlkampfsonderzug musste Konstanz bereits vor Mitternacht verlassen haben.
Warmherzig und gesellig
Die Begegnung mit Willy Brandt an diesem kalten Dezemberabend ist mir lebhaft in Erinnerung geblieben, auch wenn mir im Speisewagen keine Zeit fürs Fotografieren blieb. Sein Handschlag war unverbindlich und weich, er hatte eine raue Baritonstimme und sprach druckreif. Der Politiker und Melancholiker war warmherzig, gastfreundlich, gesellig, bescheiden und genoss im Speisewagen ein Glas Rotwein. Mit seiner Gestik wirkte er sehr lebendig und aufmerksam. Brandt war gelöst und heiter. Sein Rücktritt als Kanzler nach der Guillaume-Affäre lag lange zurück.
Voller Bewunderung sass ich ihm gegenüber – nur der schmale Gang zwischen den Tischen trennte uns. Das Gespräch kam rasch in Gang. Aus Gesten und Mimik, Lachfältchen und Blicken – auf einem schwarzweissen Pressebild verewigt – spricht eine Sprache, die wir nicht übersetzen müssen. Ein schönes Erinnerungsfoto, das zu Hause neben dem Schreibtisch hängt.
„Tscherno-Basel“ und „Spassvogel“ Harald Naegeli
Wir sprachen damals aus aktuellem Anlass über den grossen Chemieunfall am 1. November 1986 beim Schweizer Chemiekonzern Sandoz in Schweizerhalle. Willy Brandt meinte: „Was sich ausgehend von Tscherno-Basel entwickelt hat, ist unglaublich und unverantwortlich, da der Rhein ja ein Trinkwasserreservoir für Millionen von Menschen ist, nicht nur in Deutschland.“
Was ihn interessierte war auch der „Spassvogel“ Harald Naegeli, besser bekannt als „Sprayer von Zürich“. Der Zürcher Künstler Naegeli wohne jetzt in Düsseldorf. Man habe ihn eingesperrt, einfach weggesperrt wegen seinen Bildern an öffentlichen und privaten Plätzen. „Wenn es tatsächlich eine Überschreitung von Rechtsvorschriften war, vergleichen sie das einmal mit dem Umweltverbrechen, und verfolgen sie mit mir, wer von diesen Verbrechern wirklich vor den Kadi kommt“, sagte Willy Brandt mit Vehemenz.
„Der Zug fährt in drei Minuten los!“
Plötzlich erschien der Schaffner im Speisewagen und rief schrill durch das fröhliche Reden, Trinken und Qualmen: „Bitte alle Besuchenden rasch aussteigen, der Zug fährt in drei Minuten los!“ Die Zeit war um.
Wie gerne hätte ich mit Willy Brandt noch bis in die damalige Hauptstadt Bonn im Speisewagen gesessen und diskutiert! Das einstündige Gespräch fand ein Ende, ich entschuldigte mich für den abrupten Aufbruch und reichte Willy Brandt zum Abschied die Hand. „Grüssen Sie mir die Schweiz“, sagte er zum Schluss versöhnlich, obschon ihn die Basler Chemie mächtig in Rage gebracht hatte. Hastig verstaute ich das Schreibzeug und die Kamera und verliess mit zwei weiteren Gästen die abfahrtsbereite Bahn. Ein kurzer Pfiff und der Extrazug setzte sich vor Mitternacht in Bewegung.
Ein freundlicher Kollege sandte mir später ein Foto, wo ich mich mit Willy Brandt auf Augenhöhe – lebhaft und ungezwungen – unterhielt. Brandt war der Ansicht, dass das wirksamste Kommunikationsmittel das Gespräch mit den Menschen sei.
Die Serie «Augenblicke»
In der Fotokolumnen-Serie «Augenblicke» zeigt Urs Oskar Keller besondere Momente aus seiner Zeit als Foto-Reporter in unserer Region. Zu den Fotografien schreibt er in kurzen Texten auch, wie die Aufnahmen entstanden sind und was sie so besonders macht. Gewissermassen entsteht so eine kleine Geschichte besonderer Foto-Momente aus den vergangenen 50 Jahren. In einem Interview hat er erläutert, wie er die Momente eingefangen hat.
Alle weiteren Beiträge der Serie bündeln wir in einem Themendossier.

Von Urs Oskar Keller
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