von Maria Schorpp, 01.07.2025
Wenn Gewalt zum Schicksal wird

Im Roman „Bleibender Schaden“ kämpft Anda gegen die Folgen ihrer seelischen Verletzungen. Andrea Gerster gelingt eine fesselnde Geschichte auch über patriarchale Gewalt gegen Frauen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Es gab etwas in Andas unglücklichem Leben, das nur ihr selbst entsprang. Luk, den sie gerade kennengelernt hatte, hat nur milde geschmunzelt, als sie ihm erzählte, dass sie schreibt. Dass sie später einen Literaturpreis erhielt, hat sie ihm nicht mehr gesagt. Heimlich nahm sie an der Verleihung teil. Den bereits begonnenen Roman, den sie mit dem Preisgeld fertigstellen sollte, hat sie aufgegeben. Weil dann ihre Mutter gestorben ist, sagt sie.
Eigentlich will sie ihn verlassen
Je weiter man in Andrea Gersters Roman „Bleibender Schaden“ vordringt, desto weniger kommt einem das als Ausrede vor. Wahrscheinlich stellte die Mutter für sie noch der einzige Rückhalt dar. Obwohl sie ihre Tochter nach dem frühen Tod von Andas Vater bei den Grosseltern abgestellt hat und sie für ihr Geschäft in der Welt herumreiste. Ohne die Mutter gab es wohl nichts mehr, was sie Luk entgegenzusetzen hatte. In der Jetztzeit des Romans hat sie irgendwie doch den Entschluss gefasst, ihn zu verlassen.
Und dann fällt er plötzlich beim Staubsaugen um. Schlaganfall. Wie Gerster Andas Reaktion über viele Seiten beschreibt, ist gespenstisch. Schlaganfall, schnelle Hilfe holen? Anda steht völlig neben sich, tut zunächst nichts. Ihre Gedanken schlagen Salti, lange bleibt unklar, ob sie den Krankenwagen nun angerufen hat oder nicht. Sie ist dabei, den Boden unter den Füssen zu verlieren.
Zuerst sah es so aus, als könne er richtig und falsch unterscheiden
Zunehmend gebannt liest man Andas Lebensbericht, von ihren Bauchschmerzen als Kind vor Sehnsucht nach einer richtigen Familie, wenn sie sonntags Eltern und Kinder vorbeiradeln sah, von ihrem Leben als Luks Frau und Mutter von mittlerweile erwachsenen Zwillingen. Nichts davon hat sie gewollt. Dann warb Luk um sie, der zu wissen schien, was richtig und was falsch ist. Und der sie dann in der Ehe schlägt, über das sie aber nicht mit anderen sprechen kann.
Er schlägt sie an Stellen, in den Magen zum Beispiel, wo es keine sichtbaren Spuren hinterlässt. Knuffen nennt er das. Darauf angesprochen sagt er, sie bilde sich das ein, oder schiebt ihr in klassische Täter-Opfer-Umkehr die Verantwortung zu. Und es ist noch mehr passiert. Andas Freundin Sandrine, die ihn offenbar durchschaut, erteilt der Schulrektor mit Prinzipien Hausverbot.
Video-Interview mit Andrea Gerster
Sie denkt sich weg in eine Fantasiewelt
Andrea Gersters Roman ist durchzogen von solcher Alltagsgewalt inmitten all des schönen Scheins von Familie, Haus und Hund. Gleich zu Beginn wird Anda, die als Ergotherapeutin in einer sozialen Einrichtung arbeitet, von einem Patienten geohrfeigt. Auch darüber spricht sie mit niemandem. Es hat eine traurige Logik, dass sie sich, neben dem ohnmächtigen Luk liegend, in eine Phantasiewelt flüchtet, sich „wegdenkt“, wie sie sagt.
Darin steht sie am Anfang eines „neuen“ Lebens. Hat eine neue Stelle im Tessin, zieht in das Haus der selbstbewussten Roberta Pozzi ein, eine grosse Haus-WG, in der sich die Leute gegenseitig helfen. Im wirklichen Leben wird sie wieder hinter ihren Entschluss zurückgeworfen. Einen Pflegefall verlässt man nicht.
Stellenweise lesen sich die Fantasien, in denen sich Anda vorstellt, wie ihr Leben auch verlaufen könnte, wie einer dieser kitschigen Frauenromane, in denen Frau aus ihrem alten Leben aufbricht, um ihre wahre Bestimmung zu leben. Währenddessen liegt Luk neben ihr, und sie stellt anhand seines Handys fest, dass er sein Verhältnis mit einer Kollegin doch nicht beendet hat. Die Alternativ-Welt wird immer realer und detailgenauer, schliesslich ist Anda schriftstellerisch begabt.
Gerster erzählt diese Passagen im Präsens, als ob das Alternativleben im Sehnsuchtsort gegenwärtiger wäre als das reale. Anda denkt sich Rafaele aus, den Dichter, mit dem sie ein Verhältnis eingeht. Aber bereits, dass sie sich auch in dieser Welt einem Hund annimmt, lässt die Alarmglocken läuten. In Andas Fantasiewelt träufelt nach und nach das Gift der Wirklichkeit.
Auch das „neue“ Leben ist vom alten infiziert
Und da ist Andas Manie für Rolltreppen. Noch eine Strategie, um sich selbst zu beruhigen und ihre Unfähigkeit, sich im wirklichen Leben zu behaupten, zu kompensieren. In einer Reihe mit anderen zu stehen, „ohne Nähe und doch nah“, entspanne sie, beschreibt es die Ich-Erzählerin. Aber auch in ihrem „neuen“ Leben kommt ihr ihre alte Vergangenheit dazwischen. Andrea Gerster schildert den folgenden totalen Zusammenbruch, inklusive Alkoholismus, sachlich schonungslos. Das neue Leben, das ihre Protagonistin dann wirklich beginnt, ist so ganz anders als das vorgestellte.
Andrea Gerster erzählt in „Bleibender Schaden“ nicht nur sehr eindringlich von einem Frauenleben. Sie erzählt auch sehr subtil von patriarchaler Gewalt, die den Alltag von Anda durchzieht. Deren Söhne stehen ihr mit Misstrauen gegenüber, schon früh beginnen sie, ihre Mutter mit tagelangem Schweigen zu bestrafen. Wie Luk, ihr Vater, über dessen Hintergrund man kaum etwas erfährt. Man kann höchstens vermuten, woher dessen bleibender Schaden herrührt. Eindringlich, schockierend und fesselnd – am Ende auch ein wichtiges Buch angesichts zunehmender Alltagsgewalt gegen Frauen.
Andrea Gerster: Bleibender Schaden. Geparden Verlag, Zürich 2025, 148 Seiten.

Von Maria Schorpp
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