von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 15.10.2025
Der Zauderberg

Fast ein bisschen fad: Peter Stamms neuer Erzählband «Auf ganz dünnem Eis» beobachtet etwas zu routiniert menschliches Scheitern. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Man soll ein Buch ja nicht nach seinem Cover beurteilen, aber in diesem Fall geht es fast nicht anders. Eine Winterlandschaft von Adolf Dietrich ziert den Buchdeckel von aussen, im Innern gibt es Geschichten vor vertrauter Kulisse. Da fühlt man sich als Thurgauer in Peter Stamms «Auf ganz dünnem Eis» sogleich heimisch. Heimattümelnd geht es in dem neuen Erzählband natürlich trotzdem nicht zu. Eher tiefenpsychologisch und menschenbeobachtend.
Dietrichs gefrorener See setzt die Stimmungslage des Bandes – es geht eher frostig zu. Nicht, weil die Figuren gefühlskalt wären. Sondern eher, weil die Kommunikation zwischen ihnen erstarrt und ihrer eigentlichen Funktion beraubt ist: der Verständigung. Das Scheitern von Sprache und Kommunikation ist ein Lebensthema von Peter Stamm. «Auf ganz dünnem Eis» hat aber eine zusätzliche Ebene.
Wenn es stimmt, dass wir im Zeitalter der Flucht leben, dann ist Stamms neuer Erzählband der passende atmosphärische Sound dazu. Nicht, weil Stamm über die globalen Wanderbewegungen schreiben würde – nein, darum geht es gar nicht in dem Band. Sondern weil fast alle zehn Geschichten des Buches von Menschen handeln, die weniger von äusseren Bedingungen als vielmehr aus einer inneren Notwendigkeit heraus, zum Aufbruch gezwungen werden. Sie müssen nicht fliehen. Sie wollen fliehen.
Wie viel Isolation kann Mensch ertragen?
Zum Beispiel Laurin, der als junger Mann in «Mars» eine Expedition zum Planeten simuliert. Sechs Monate und 19 Tage will er sich im Keller seines Elternhauses isolieren, um sich vorzubereiten auf eine richtige Mars-Expedition in ferner Zukunft. Schon als Kind fasst er den Plan, als Student der Luft- und Raumfahrttechnik setzt er ihn um. Sein Vater, der Erzähler dieser Geschichte, hilft ihm bei den Vorbereitungen, seine Mutter Anna sieht mit zunehmender Fassungslosigkeit, dass Laurin sein Vorhaben wahr macht.
Den Moment, in dem sich ihr Sohn in sein freiwilliges Gefängnis begibt, verpasst sie absichtlich, weil sie es nicht ertragen kann. Es folgen harte Wochen der sozialen Einsamkeit, auch die Eltern werden auf die Probe gestellt und vereinsamen allmählich nebeneinander. Das Ende ist ein Ende mit Schrecken, und man lernt, dass nicht jeder Wunsch eines Kindes zwingend umgesetzt werden sollte und Fluchtreflexe manchmal auch nur ein Schrei nach Liebe sind.

Zweifel, immer wieder Zweifel
Das geht auch der Hauptfigur in «Jump & Run» so: eine Mittdreissigerin im Dienst einer Friedenstruppe im Kosovo. Erst flieht sie aus ihrer Ehe mit Armin, weil sie ihn eigentlich nie liebte, und später flieht sie von einem Mann, Valon, den sie vielleicht zu sehr begehrt. Es geht um die Sehnsucht nach echten Erlebnissen, das Verzehren nach einem aufregenden Leben und den Wunsch, aus dem gewohnten Alltag auszubrechen.
Eine Sinnkrise hat sie zur Friedenstruppe gebracht: «Ich habe mich an alle Regeln gehalten, aber nie über den Sinn dieser Regel nachgedacht. Warum muss ich mich um die Kinder kümmern? Warum muss ich meine Karriere auf Eis legen, während Armin sich zu Tode schuftet? Warum müssen wir ein Haus haben, ein Auto? Warum fahren wir in die Berge in die Ferien und nicht ans Meer, wie ich es gern möchte?»
Wie fühlt sich Einsamkeit in digitalen Zeiten an?
Im Camp des Friedenskorps befallen sie aber auch Zweifel: «Warum bin ich hier?» Peter Stamm zeichnet in dieser Erzählung das Porträt einer Unzufriedenen, einer Suchenden, die doch nie findet, was sie für ihre Erlösung bräuchte – das kleine Stück vom ganz persönlichen Glück. Es gipfelt im vielleicht schönsten wie bittersten Satz der Sammlung: «Wenn sich im Herbst die Vögel sammeln, um in den Süden zu ziehen, überfällt mich jedes Mal das Fernweh. Ich will nicht dahin, wo sie hinwollen, ich will unterwegs sein. Ankommen ist immer eine Enttäuschung.»
Um Enttäuschungen geht es ebenfalls in «Auf dünnem Eis II». Gelangweilt von ihrer Beziehung mit Manuel stürzt sich die Protagonistin in eine Affäre mit Jonas. Wobei: Affäre trifft es nicht richtig. Es ist eher eine Fantasie, eine Gedankenspielerei. Vieles bleibt zunächst in der Theorie. Sie schreiben sich Nachrichten, entflammen für die Worte des anderen – oder vielleicht auch nur für das «Bing», das die immer neuen Chat-Nachrichten auf ihren Smartphones auslösen. So genau weiss man das nicht. Es ist eben auch eine Geschichte über Einsamkeit in digitalen Zeiten und die Unfähigkeit, Gefühle direkt auszuleben.

Keine Kraft für echte Begegnungen
Während sich die beiden in ihrem Chat einander hingeben, erlischt dieses Feuer im Moment der direkten Begegnung. Also sitzen sie lieber hundert Meter voneinander entfernt auf Parkbänken und erwärmen sich an ihren Fantasien. «Auch ich war unsicher, ob ich zu ihm hingehen, ihn umarmen, vielleicht sogar küssen sollte, nachdem wir in unseren Nachrichten so viel weiter gegangen waren, aber ich hatte das seltsame Gefühl, dass dieser junge, sportliche Mann nichts mit jenem zu tun hatte, der mir die Nachrichten geschickt hatte.»
Die Realität killt die Leidenschaft. Und am Ende überleben (vielleicht) nicht alle das Drama.
Peter Stamms «Auf ganz dünnem Eis» bündelt Geschichten von Menschen, die sich in Fantasien und Gedankenspielen verlieren. Sie zögern, sie zaudern, sie hadern mit sich und der Welt. Auf den 190 Seiten des Bandes finden sich die klassischen Peter-Stamm-Themen, die man auch aus seinen Romanen kennt: Auslassungen, das Scheitern von Sprache, die Konzentration aufs Zwischenmenschliche, die Schatten von Wunsch, Erinnerung und Identität.
Alles klingt ein bisschen zu gleich
Diese unverwechselbare Tonlage ist zugleich Stärke und Schwäche des Bandes. Es spielt keine Rolle, wie alt die Hauptfigur ist, welches Geschlecht sie hat und welche Umstände sie gerade erlebt – der Erzählton ist immer sehr ähnlich: Kurze Sätze, klare Sprache, Selbstzweifel, manchmal auch Selbstgerechtigkeit, viele Fragen, Unsicherheiten. Das ist einerseits eine Qualität, weil es authentisch ist – die Menschen sind oft so. Plus: Bei Stamm entsteht am Ende trotzdem (fast) immer mindestens solide Literatur. Andererseits ist es aber auch ein bisschen langweilig, weil es so erwartbar ist.
Erst in «Wintern», der letzten Geschichte des Bandes, bricht Peter Stamm mit dieser Haltung. Es ist eine Erzählung, die in der Zukunft spielt und beschreibt, wie eine neue Eiszeit die Welt in eine schwer bewohnbare Tiefkühltruhe verwandelt. Die Hauptfigur ist eine der Überlebenden und dokumentiert Wetterdaten. Aber wozu eigentlich? Ist die Erde nicht längst verloren? Da sind die altbekannten Zweifel.
Ist das etwa Hoffnung?
Aber für einmal siegen sie eben nicht. Die Sehnsucht nach dem Meer treibt den Ich-Erzähler an, und schliesslich bricht er auf: «Dann kommt die Sonne hinter den Bergen hervor, der Himmel ist wolkenlos, ein guter Tag, um aufzubrechen. Ich wende mich nach Westen und lasse alles hinter mir.»
Man liest es und reibt sich verwundert die Augen: Ist das etwa Hoffnung, die zwischen den Zeilen hervorlugt? In gewisser Weise kann diese letzte Geschichte auch als versöhnliche Schlusspointe gelesen werden. Die ganze Kälte, die auf den fast 160 Seiten zuvor in alle Ecken und Winkel des Menschseins gekrochen war, jene Frostigkeit, die Nähe unmöglich macht, wird durch die Sehnsucht nach Wärme und Meer gesprengt.
Zugegeben: Diese Lesart wäre auch ein bisschen kitschig. Aber sie wäre immerhin auch eine kleine Neuentdeckung im Werk von Peter Stamm. Und ein Trost in unserer manchmal schon jetzt sehr frostigen Welt.
Das Buch und die Lesungen
Peter Stamm. Auf ganz dünnem Eis. ISBN: 978-3-10-397127-9. Verlag: S. FISCHER
Buchpremiere:
15.10.2025
Zürich, Orell Füssli Zürich Kramhof
20:30 Uhr
15,00 CHF (regulär)
22.10.2025
Winterthur, Orell Füssli Winterthur
19:30 Uhr

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