von Maria Schorpp, 20.03.2024
Federleicht bis zum bitteren Ende
Zu wenig Prickelndes: In der Theaterwerkstatt Gleis 5 kann man Judith Bach und Giuseppe Spina im Stück „Love Letters“dabei zuhören, wie sich zwei Liebende immer wieder von den Umständen und sich selbst in Ketten legen lassen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Später, wenn man Andy näher kennengelernt hat, ist es kaum vorstellbar, dass er dieselbe Person ist, die sich als Junge in die Mädchenumkleidekabine geschlichen hat. Dieser zielstrebige Mann, der alles richtig macht, was seine Lebenspläne betrifft: wohlgeratene Familie, Haus, Hund. Und natürlich beruflich erfolgreich.
Melissa, wegen der er diesen geradezu wagemutigen Gang in die Umkleide unternommen hat, gehört später nicht mehr zu seinen erwachsenen Lebensplänen. Er zu ihren auch nicht, wenn Melissa Lebenspläne hätte. Wären sie ein Paar geworden, wäre es ohnehin nicht lange gut gegangen.
Zumindest versuchen hätten sie es können
Gegensätze ziehen sich an, aber man weiss auch, dass sie nicht für ein gemeinsames Leben taugen. So gesehen ist der fast lebenslange Briefwechsel der beiden realistischerweise noch das Höchste der Gefühle. Versuchen hätten sie es zumindest können. A. R. Gurney hat mit seinem Stück „Love Letters“ in der bekannten amerikanischen Art Witz und Schlagfertigkeit mit Liebessehnsucht und Melancholie vermixt, eine federleichte Sache mit schlechtem Ausgang.
Judith Bach und Giuseppe Spina spielen das in der Frauenfelder Theaterwerkstatt auch genau so. An Anfang sitzen sie da an ihren Schreibtischen mit Haarband sie, mit Schiebermütze er. Man befindet sich in den späten 1930er Jahren, die beiden gehen in dieselbe Klasse und schreiben sich Briefchen. Andy in noch ungelenken Worten, die den späteren leidenschaftlichen Briefschreiber schon erahnen lassen, sie oft in Form von Zeichnungen, die die künftige Künstlerin ankündigen.
Schnell wie E-Mails
Das ist schön gemacht, wie die eine Person ihren Brief laut vorliest, während die andere ihn leise liest und direkt auf das Gelesene reagiert. Andy ist wirklich sehr brav, und Giuseppe Spina betont dies noch, indem er anfangs besonders korrekt und betont liest. Derweil macht Judith Bachs Melissa in direkter Reaktion ihre unkorrekten Faxen. Angesichts der Erstaufführung des Stücks im Jahr 1988 ist davon auszugehen, dass tatsächlich Briefe gemeint sind. In Frauenfeld hört es sich an, als würden E-Mails hin und her geschickt. Schnell, zeitnah und mit ausgesuchter Lakonie.
Noch schreiben sie sich über reale Begegnungen, längst sind sie an verschiedenen Schulen. Einmal ist sie sauer, weil er nicht mit ihr getanzt hat, einmal er, weil sie mit einem seiner Mitschüler geknutscht hat. Knutschen ist überhaupt das Thema. Auch die beiden haben mal geknutscht, wie man hört, aber Melissa findet, dass diese ganze Briefschreiberei eigentlich die Erotik abtötet, sie will ihn leibhaftig haben. Man liegt wahrscheinlich nicht falsch, wenn man ihr dabei unanständige Absichten unterstellt.
Ein vorbildlicher WASP
Die Regie von Paul Steinmann hat sich für eine softe Interpretation der beiden Charaktere entschieden. Das ist ein bisschen schade, da die Figur der Melissa mehr Kontur vertragen könnte, mehr Zynismus. Vor allem mehr Stärke, sie ist schliesslich die Mutigere von beiden. Andy wählt den sicheren Weg, erfüllt seine vom Vater vorgegeben Pflichten vorbildlich, geht zur Marine, dann an die Elite-Uni zum Jura-Studium, wie man hört.
Ein WASP, „White Anglo-Saxon Protestant“, und damit Angehöriger der führenden Schicht der USA. Wie Melissa auch. Warum ihre Mutter Alkohol-Probleme hat, erfährt man nicht. Aber es ist absehbar, was kommen wird, wie Melissa davon schreibt, dass sie von der Schule verwiesen wird, weil sie beim Gin trinken erwischt wurde.
So vergehen die Jahre, die immer wieder durch Weihnachtsgrüsse markiert werden, Melissa verzweifelt an ihrer Kunst und hangelt sich von Mann zu Mann, von Absturz zu Absturz, Andy wird erfolgreicher Anwalt, der auf Teufel komm raus das Bild von der Vorzeigefamilie aufrecht erhält und nur auf Melissas Spott hin einen kurzen Blick auf die dunklen Seiten gewährt. Spina zeigt wenig von diesem doppelten Boden. Erst als Andy und Melissa nach Jahren tatsächlich Sex haben, da sind sie geschätzt bereits über 50, sitzt er mit gelockerter Krawatte da.
Video: Trailer zu «Love Letters»
Musikalische Fussnoten
Die beiden Schauspielenden erheben sich immer mal wieder, um am Klavier und an der Gitarre mit Songs von Marlene Dietrich bis Janis Joplin zusätzlich Atmosphäre zu schaffen, was nicht nur sehr gut klingt, sondern gemeinsam mit dem Kostümbild von Joachim Steiner Zusammenhang herstellt. So bekommt das Ganze auch ein paar zeitliche Fussnoten. Nicht alles an diesem Stück hat schadlos überlebt, dass man für ein selbstbestimmtes Leben aber Mut braucht, dürfte nach wie vor gelten.
Andy zieht dann wieder seine Krawatte zurecht, er will die Sache beenden, er will zum Senator gewählt werden. Die Hilferufe Melissas überhört er geflissentlich. Das Briefschreiben, das merkt man jetzt genau, ist für ihn auch ein Schutzschild, um die Menschen auf Distanz zu halten. Bis zum bitteren Ende.
Ein Abend, den man amüsiert, zusätzlich etwas melancholisch und noch dazu etwas nachdenklich verlassen kann. Ein bisschen mehr prickeln könnte es aber doch.
Freitag, 22. März, 20 Uhr
Samstag, 23. März, 20 Uhr
Sonntag, 24. März, 17 Uhr
Donnerstag, 25. April, 20 Uhr
Freitag, 26. April, 20 Uhr
Samstag, 27. April, 20 Uhr
Sonntag, 28. April, 17 Uhr
Tickets für alle Aufführungen gibt es über die Website der Theaterwerkstatt.
Von Maria Schorpp
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