von Anabel Roque Rodríguez, 02.08.2021
Die künstlerische Stadtschreiberin
Es ist nicht einfach, die Kunst Esther Eppsteins auf einen einzigen Aspekt zu reduzieren. Mal ist Fotografie das Werkzeug für sie, aber viel häufiger besteht ihre künstlerische Arbeit im Machen von Ausstellungen und im Zusammenbringen von Kunstschaffenden. Künstlerinnen und Künstler und deren Beziehung zur Stadt Zürich sind Esther Eppsteins grosses Thema. Über die vielen Jahre ihrer Arbeit schaffte sie es so, das kreative Ökosystem der Stadt zu zeigen. Nun wird Eppstein, die auch Mitglied des Stiftungsrates der Thurgauer Kulturstiftung ist, mit dem Schweizer Grand Prix Kunst / Prix Meret Oppenheim ausgezeichnet.
Esther Eppstein ist an gesellschaftlichen Prozessen interessiert. Es ist eine immaterielle Art des Schaffens und vielleicht deshalb für manche schwer zu fassen. Auch für die Künstlerin ist es ein Findungsprozess, der für sie in der Aussage gipfelt: «Was ich mache, ist Kunst, auch wenn es immateriell ist». Ihr Credo lautet: Kunst entsteht, wenn Menschen zusammenkommen. Dieser Prozess kommt einer Art Performance über Ausstellungspraxis und Kulturpolitik nahe und erinnert an die Stadtschreiber aus dem Mittelalter, die durch ihre Wahrnehmung und besondere Beziehung zu einer Stadt Chroniken über die Stadt verfassten und wichtigen Einfluss auf die Stadtentwicklung hatten. «Kunstschaffende sind ein wichtiger Teil der Zivilgesellschaft und ihre Sichtbarkeit ist ein Gradmesser einer freien Gesellschaft.»
Kunst braucht Raum und ist damit politisch
Esther Eppstein schafft mit ihrer Kunst Raum – ganz konkret: Raum in Zürich. Ihre temporären Ausstellungsorte – fern von Kunstinstitutionen – bringen unterschiedliche Menschen an Orten zusammen, die eher als tabuisiert galten, wie zum Beispiel der Kreis 4.
Inspiriert war ihre Idee des message salon von historischen Vorbildern, wie dem Künstlersalon von Gertrude Stein: «Es ging mir darum einen Ort zu erfinden, wo sich eine Art Szene meiner Generation drumherum bildet. Im gleichen Zug war es mir wichtig Kunstgeschichte für eine kurze Zeit in dieser Stadt mitzuschreiben und festzuhalten.»
«Viele der Salons in der Geschichte wurden von Frauen geführt, die einen jüdischen Hintergrund hatten.»
Esther Eppstein
Ihre Praxis, Raum für Kunst zu schaffen und einzufordern, verbindet Kulturpolitik und Stadtentwicklung. In einer Zeit, in der Kulturförderung immer häufiger konkrete Projekte statt langfristiger Ideen fördert und die Mietpreise ansteigen, verweigert sie, ihre Kunst zu einem Produkt zu machen. Sie fragt stattdessen, wie viel Raum eine Gesellschaft ihren Künstlerinnen und Künstlern zugesteht und was dies über sie aussagt.
Orte für Experimente
So unterschiedlich die Räume sind, in denen sie ihre Ausstellungen organisiert – mal ein ehemaliger Spiegel- und Rahmenladen, ein Textilgeschäft oder ein Wohnwagen – so haben sie gemeinsam, dass sie keine white cubes sind und in Quartieren liegen, die man vielleicht weniger mit Kunst verbindet.
Die Ausstellungen in ihrem message salon waren stets Einzelausstellungen und den Künstlerinnen und Künstlern wurde immer eine carte blanche ausgestellt: «Die Einzelausstellungen sind wichtig, da mich kuratierte Gruppenausstellungen mit Themen nie interessiert haben. Für mich war es wichtig, ein Ort für die Experimente der Künstler zu sein. Es sind Kunstorte an denen Kunst gemacht und nicht nur präsentiert wird. Ich stellte jeweils eine Art Saisonprogramm mit Einzelausstellungen zusammen, es tauchten so bekannte neben unbekannten Namen auf. Jede Einzelausstellung war auch eine Raum-Installation, unter den eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern entstand geradezu eine Art Wettbewerb, in jeder Ausstellung den Raum neu zu denken. Es ging mir auch von Anfang an darum, den Ort zu bewerben, so dass man in den message salon kam, auch wenn man die Namen der Ausstellenden (noch) nicht kannte.»
«Kunstschaffende sind ein wichtiger Teil der Zivilgesellschaft und ihre Sichtbarkeit ist ein Gradmesser einer freien Gesellschaft.»
Esther Eppstein
Ihr Salon beruht auf den Werten «Künstlerleben zu unterstützen, Respekt und Verständnis sowie einer tiefen Wertschätzung der Kunst». So gelingt ihr auf natürliche Weise, unterschiedliche Menschen im Kontext von Kunst zusammenzubringen und zu vernetzen.
Eine Stadtschreiberin Zürichs
Seit 1996 ist ihr message salon eine Art Freiraum für die kreative Szene der Stadt. Gegründet an der Ankerstrasse im Kreis 4, wanderte der Offspace immer wieder innerhalb der Stadt Zürich, unter anderem in einem Wohnwagen, der 2001 für die Sammlung Migros Museum angekauft wurde.
«Der message salon ist in einer Zeit entstanden als es eigentlich kaum freie Kunstorte in der Stadt gegeben hat und wir deshalb unseren eigenen Kunstort schaffen wollten. Es kam ausserdem noch meine persönliche Lebenssituation dazu, ich war damals junge Mutter, hatte die Grafikfachklasse in Luzern abgebrochen und wusste nicht recht, was aus mir werden sollte. Zudem waren die 90er Jahre eine Zeit des Umbruchs. Zürich war damals eine ziemlich triste Stadt, die Drogenszene hat vieles dominiert, es hat viel Leerstand gegeben. Vieles davon waren noch Nachwehen aus den 80er Jahren und den niedergeschlagenen Jugendunruhen ums AJZ, bei denen es damals bereits um kulturelle Räume gegangen ist, was man heute häufig vergisst. In diesem Zeitgeist und dem Wunsch aus der Isolation zu kommen entstand der message salon eher aus der Do it yourself Mentalität heraus, die ganz typisch für die Jahre war. Ich musste meinen eigenen Raum erfinden.»
Die Fragmente einer Gesellschaft zusammenbringen
«Die Kulturbesetzung Wohlgroth war eine wichtige Inspirationsquelle, weil ich dort gesehen habe, wie man an einem Ort verschiedene Sachen zusammenbringen kann. Dort hat es ein Kaffee, einen Jazzkeller, Techno- und Punkparties gegeben. Es wurde viel ausprobiert.»
Das Denken der Künstlerin ist von der Punkszene beeinflusst und der Haltung nach einer Autonomie und Freiheit von Kunst. «Der Salon lebt von einer Haltung, jemandem, der diesen Ort verkörpert, und einem starken solidarischen Gedanken. Man muss sich zusammenschliessen, um etwas zu bewirken; eine Szene schaffen, um Sichtbarkeit zu erhalten. Es ging darum, ein Netzwerk zu generieren, das um sich herum wiederum ein Netzwerk bildet. Es ist in der Natur der Sache, dass man Dinge laufen lässt und es kein abgeschlossener Raum ist. Es war mir immer wichtig, dass es ein durchlässiger Raum ist. Eine Szene ist beweglich und kann sich in immer wieder neuen Konstellationen neuformieren. Diese organische Beweglichkeit gibt einem die Möglichkeit immer wieder auf Dinge zu reagieren und sich dem Zeitgeist anzupassen.»
Vielleicht ist der Erfolg ihrer Orte auch davon beeinflusst, dass sie noch vor dem Internethype aufkamen. Veranstaltungen wurden mit Flyern angekündigt, die sie selbst in der Szene verteilt hat. So konnte sie verschiedene Fragmente einer Gesellschaft zusammenbringen, weil sie Teil der Systeme war und nicht von aussen versuchte, Kontakte zu knüpfen.
«Der Salon lebt von einer Haltung, jemandem, der diesen Ort verkörpert, und einem starken solidarischen Gedanken. Man muss sich zusammenschliessen, um etwas zu bewirken; eine Szene schaffen, um Sichtbarkeit zu erhalten»
Esther Eppstein
Historisches Bewusstsein
Esther Eppstein will vermeintliche Kategorien aufbrechen. Für sie gehören Kunst und Leben zusammen und so zeigt sich auch ihre Haltung, dass das Private politisch ist, sowie ein tiefes historisches Bewusstsein. Es braucht Kontext, damit wir Beziehungen schaffen können. «Mich interessiert Geschichte, auch Stadtgeschichte. Mich macht es manchmal wahnsinnig, wie wenig Geschichtsbewusstsein es in der Schweiz gibt. Mir war es immer wichtig, wenn ich etwas im Quartier mache, es da nicht einfach ignorant hinzupflanzen, sondern das Umfeld zu verstehen.»
Ihre Sichtweisen wurden von ihren Eltern geprägt, die Kunst als wichtig empfanden und Schweizer Kunst gesammelt haben. Eppsteins jüdischer Vater ist in der Langstrasse geboren und vielleicht hat ihr Kontakt zur Diaspora, die sich entwurzelt fühlt und sich immer wieder neu verwurzeln muss, dazu beigetragen, Beziehungsgeflechte zu einem Lebensthema zu machen. Menschen mit Verbindungen zu Minderheiten hinterfragen häufig die Mechanismen innerhalb einer Gesellschaft und werden so oft zu Brückenbauern zwischen sozialen Gruppen. Und vielleicht schliesst sich hier der Kreis zu den Salons: «Viele der Salons in der Geschichte wurden von Frauen geführt, die einen jüdischen Hintergrund hatten.»
Esther Eppstein verwebt auf intelligente Weise Gedanken zu Offspaces und Institutionen, Gedanken zur Diaspora und Szene in einer Stadt und nimmt uns mit zu dem, was entsteht, wenn man Experimente zulässt. In moderner Museumssprache würde man von Diversität und Inklusion sprechen, aber das sind Labels, die auf Trennung beruhen und die Künstlerin ist viel eher an der Reibung interessiert.
Die Künstlerin im Video-Portrait von Marie-Eve Hildbrand / Terrain Vague, Lausanne
Esther Eppstein
Esther Eppstein, geboren 1967 in Zürich, lebt in Zürich. Seit 1996 betreibt sie ihr Kunstprojekt message salon, das bis heute ihre künstlerische Praxis prägt. Jahr 2006 lancierte sie mit anderen Kulturschaffenden das Kulturhaus Perla-Mode an der Ecke Brauer- /Langstrasse in Zürich. Für ihr Schaffen als Kuratorin und Künstlerin wurde Esther Eppstein mehrfach ausgezeichnet, unter anderem von Stadt und Kanton Zürich und dem Bundesamt für Kultur (2003 und 2006). Werke von Esther Eppstein befinden sich in der Sammlung des Migros Museum für Gegenwartskunst und der Grafischen Sammlung des Kunsthaus Zürich. Esther Eppstein ist Stiftungsrätin der Thurgauer Kulturstiftung.
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