von Brigitte Elsner-Heller, 20.06.2022
Eine Schauermär zum Schmunzeln
«Nosferatu» nach Motiven von Bram Stokers «Dracula» wird vom Theater Konstanz als Freilichttheater gespielt. Die «vierzehn, teilweise schrecklichen Bilder» fallen dabei durchaus auch erheiternd aus.
30 Grad, Sonne – für einen Vampir bedeutet das bekanntermassen nicht weniger als die Apokalypse. Dazu als Ort eine Stadt wie Konstanz, in der im Wesentlichen sehr gebildete Bürger leben, die für derlei Spuk keinerlei Verständnis aufbringen und die auch nichts von Untoten wissen wollen. Oder am Ende etwa doch?
Dringend gesucht: Frisches Blut
Auf dem Konstanzer Münsterplatz lässt sich jetzt erfahren, wie es „wirklich“ darum bestellt ist und um einen Vampir, der auf der Suche nach frischem Blut seine angestammte Heimat Transsylvanien verlässt, um in Konstanz mindestens Mathildas weissen Hals näher in Augenschein zu nehmen.
Unser Vampir, der nach Motiven von Bram Stokers „Dracula“ aktuell von Stephan Teuwissen „in vierzehn, teilweise schreckliche Bilder“ gegossen wurde und in Konstanz angelandet ist, heisst Nosferatu, der slawischen Tradition sowie dem berühmten Stummfilm von Murnau aus dem Jahr 1921 folgend.
Als Freilichttheater vor der Kulisse des Münsters werden dabei Erzähl- und Spielebene so verflochten, dass sich immer wieder stimmige neue Tableaus ergeben – eine von Bildern inspirierte Technik der Regisseurin Mélanie Huber, deren Choreografie dem Auge schmeichelt und die dabei auch noch für Tempo und allerlei Kurzweil sorgt.
Lauter aufgeklärte Herrschaften
30 Grad also zum ersten „schrecklichen Bild“ der Uraufführung, die Sonne ist noch nicht hinter dem Häuserensemble der Niederburg verschwunden. Gut, dass Graf Orlok (respektive Nosferatu oder auch Dracula) noch nicht auf der Spielfläche erscheint.
Dafür taucht, eingeleitet von unheildräuenden Klängen eines Live-Orchesters (Leitung: Rudolf Hartmann), der Privatgelehrte Van Hasselt im bedächtigen Konstanz auf. In Ingo Biermann findet der in Sachen Vampirismus ambitionierte Vortragsreisende eine amüsante Verkörperung.
Geschäfte sind wichtiger als die Moral
Nur, dass die Ausführungen bei den „aufgeklärten Herrschaften der Bildungsgesellschaft“ (Apotheker Ludwig Leiner und das vom ihm beförderte Rosgartenmuseum werden nicht ausgespart) kaum auf Anerkennung stossen. Im Gegenteil: Man schätzt ganz pragmatisch eher lukrative Geschäftsbeziehungen, und zu deren Adressen zählt eben auch ein gewisser Graf Orlok in Transsylvanien (ein zeitloses Motiv!).
Lediglich die naiv anmutende Linda-Marie (Jonas Pätzold tänzelnd mit Bubikopf der 1920er Jahre) kauft dem „Forscher“ immerhin ein Exemplar der Vampirsfibel ab, was den Konstanzern später noch zugute kommen wird.
Geradlinig war gestern
Erfreulich bei alldem stets der Text von Stephan Teuwissen, der den Schauspielern nicht nur zu jeweils eigener Kontur und Sprachkunst verhilft, sondern der auch recht vergnüglich ausfallen kann. Zum Beispiel, wenn es nach dem ersten Bild heißt: „Linda-Marie singt folgendes Lied in C-Dur“.
Ob die eigens von Sebastian Androne-Nakanishi komponierte Musik sich jemals einfach kategorisieren lässt, sei dahingestellt. Denn der Komponist spielt eher mit Reibung als mit harmonisch daher kommenden Akkorden oder gar Melodielinien und nimmt dabei Anleihen aus dem Jazz der 1920er Jahre, dem Wiener Expressionismus oder der Volksmusik des Balkan. Das schlichte und fröhliche C-Dur? Hier erlaubt sich der Autor vielleicht einen seiner ironisch-lakonischen Scherze.
Hutters dramatischer Abschied
Doch zurück zum schnöden Mammon: Makler Nogg (Patrick O. Beck lässt ihn kantig oder auch geschmeidig so gerissen wie manipulativ auftreten) „überzeugt“ den jungen Bert Hutter davon, dass ein Besuch bei Graf Orlok zwecks Anbahnung eines Immobilienkaufs in Konstanz seiner Karriere förderlich sein werde. Hutter (Julian Mantaj) durchlebt daraufhin eine schlaflose Nacht, in der sich Furcht und Ehrgeiz ein Stelldichein geben.
„Dramatischer Abschied“ ist dann auch gleich das vierte Bild überschrieben, bei dem die Verlobte Mathilda (Sarah Siri Lee König) ihren Künftigen beherzt auf die Reise schickt. Während Mathilda nun nicht gerade vor Sorgen kein Auge mehr zumacht, beginnt für Hutter eine Reise, die nach Sonnenuntergang an der langen schwarzen Tafel von Graf Orlok ein Ende finden wird – zumindest, was die bisherige Daseinsdimension angeht.
Klasse statt Masse
Schön ausgearbeitet die Szenen, in denen die Einheimischen in Transsylvanien auftreten, wobei die Schauspieler (neben den Genannten auch Odo Jergitsch mit sonorer Stimme und Auftreten als Wirt oder später Kapitän) und auch eine überschaubare Statisterie angemessen zum Zuge kommen.
Die Reduktion der Mittel bei Kostümen und Bühne (Lena Hiebel) führt durch den aufmerksamen Blick der Regisseurin zur Intensivierung dessen, was gezeigt wird. Ganz erstaunlich für die Situation „Open Air“, bei der oft nach der Devise vorgegangen wird, dass mehr auch mehr ist und der Raum eben durch allerlei Beiwerk zu füllen ist.
„Was endet, ist gut.“
Graf Orlok, Nosferatu
Und wo bleibt nun Orlok/Nosferatu? Die grosse Gruselfigur ist in der Inszenierung mit einer eher zarten Frau besetzt, Luise Harder. Sie verkörpert einen einsamen Vampir, der blass ist und durch Haarausfall gezeichnet. Dass er sich am Blut Hutters labt, könnte man ihm schon beinahe gönnen und ihm zugute halten, dass er ja eigentlich gar nicht anders kann.
Auch in Konstanz hält er sich schadlos, was aber gar nicht so dramatisch daher kommt. Dunkle Gassen, Theaternebel, harte Kontraste und abgezirkelte Gesten, die fremd ins Vertraute eindringen und Grauen verbreiten? Fehlanzeige.
Luise Harder schreitet mit aufgerissenen Augen, in denen auch Furcht liegt. Wird also am Ende gar nicht Konstanz, sondern der Vampir erlöst? Gut und Böse, sie sind in ihren mannigfaltigen Facetten ein schwieriges Terrain.
Grosse Farbigkeit der Inszenierung
Spass macht die Geschichte „Nosferatu“ auf jeden Fall, auch wenn die Reise nach Transsylvanien mehr Pep hat als die folgende Konstanzer Rundumschau, der es an erzählerischem Impetus dann doch etwas mangelt. Schön aber, wie es trotz dieses „Grossereignisses Open Air“ möglich wurde, den Figuren so viel Farbe zu geben.
Erstaunlich auch, wie der Raum choreografisch genutzt wurde, wie sich die Darstellenden auch durch ihre rein physische Präsenz in Stellung bringen. Herausragend durch die Kunst der Bewegung neben Ingo Biermann und Patrick O. Beck besonders Julian Mantaj, der sogar als Untoter noch sehr lebendig ins Geschehen integriert ist.
Lang anhaltender Applaus für ein ziseliert ausgearbeitetes Freilichttheater auf historischem Konstanzer Boden. Und die Seitenhiebe auf das „bedächtige Konstanzer Blut“ lassen schon schmunzeln.
Weitere Aufführungen
«Nosferatu. Eine Schauermär für lebendes Ensemble und Blaskapelle in vierzehn, teilweise schrecklichen Bildern von Stephan Teuwissen» läuft noch bis 23. Juli auf dem Konstanzer Münsterplatz. Alle Termine und Tickets: www.theaterkonstanz.de
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