von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 13.06.2023
Die Zeit der Wasserglas-Lesungen ist vorbei

Wie bringt man Literatur zum Publikum? Eine Frage, die sich gerade viele Veranstalter stellen. Die Literaturtage Arbon geben ab Samstag sehr spannende Antworten darauf. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Lesungen laufen immer gleich ab. Vorne sitzt die Autorin oder der Autor, ihm oder ihr gegenüber nimmt das Publikum in fein sortierten Stuhlreihen Platz. Es wird gelesen, es wird gelauscht und am Ende vielleicht noch ein bisschen geplauscht mit einer mal mehr, mal weniger originellen Moderation. Und irgendwo steht verloren ein halbvolles Wasserglas herum. Muss das so sein oder könnte man das vielleicht auch mal anders machen?
Das ist eine Frage, die sich gerade viele Literatur-Veranstalter:innen stellen. Auch die am Samstag beginnenden Literaturtage Arbon haben sich damit beschäftigt und das bis 25. Juni dauernde Programm gibt nun eine sehr klare Antwort auf oben genannte Frage: Na klar, sollte man das auch mal anders machen! Denn neben den klassischen Wasserglaslesungen, die es nach wie vor auch in Arbon geben wird, probieren die Initiatorinnen Andrea Gerster und Ruth Erat in diesem Jahr sehr viel Neues aus.

Die Entdeckung des Fremdseins
Zum Start am Samstag, 17. Juni, gibt es im Max-Burkhardt-Haus ein Live-Hörspiel mit Musik, das die Zuhörer:innen mittels Kopfhörer lauschen können. Es folgen eine Ring-Lesung, die Texte verschiedener Autor:innen und Musik bündelt und das innovative Projekt „Fremd Zuhause - Versuche zur Desintegration“, das aus dem Ostschweizer Förderprogramm „Literatur Ost +“ entstanden ist.
Dieser Audiowalk von Christina Caprez (Konzept & Text), Karin Bucher (Konzept & Handlungsanweisungen), Martin Bezzola (Ton & Musik), Jane Schindler (Grafik & Webapplikation) lädt dazu ein, die vertraute Umgebung mit anderen Augen zu sehen.
Eine Web-App generiert einen Rundgang und lädt ein, im eigenen Wohnquartier neue Wege zu entdecken. Unterwegs hören die Spazierenden literarische Texte zum Thema Fremdsein, und an den Stationen eine Soundcollage, die sie in andere akustische Welten entführt. Die Texte dazu stammen von Samira El-Maawi, Asa S. Hendry, Melinda Nadj Abonji, Angelika Overath, Usama Al-Shahmani.

Ein literarischer Rundgang fürs eigene Quartier
Der Clou des Projektes: Man kann das an den Literaturtagen am 18. Juni (17 Uhr) in einem gemeinsamen Spaziergang mit Karin Bucher erleben oder auch jeder für sich in seinem eigenen Quartier. Je nachdem wo man sich befindet erstellt die Web-App einen eigenen Rundgang, der immer vier bis fünf naheliegende Punkte verbindet, die es überall gibt: eine Sitzbank, einen Brunnen, einen Spielplatz, eine Kirche, ein Gemeindehaus.
Egal von wo man den Rundgang startet, ob in der Gruppe in Arbon oder alleine im eigenen Quartier: Jede:r Teilnehmer:in benötigt dafür ein eigenes Handy mit Internetverbindung, GPS und genügend Ladung sowie einen Kopfhörer.
Lunik-Frontfrau Jaël Malli zu Gast
Wem das zu experimentell und digital ist, der kann auch eine der klassischen Lesungen im Festivalprogramm besuchen. Im vergangenen Jahr war Tom Kummer der prominenteste Gast der Literaturtage, in diesem Jahr ist es wohl Jaël Malli, frühere Frontfrau des Schweizer Popduos Lunik.
Sie stellt ihr 2021 erschienenes Kinderbuch „Sensibeli“ am 25. Juni vor. „Die Kinderlieder und Texte sprechen insbesondere sensible Seelen an und befassen sich mit Themen wie «Schüchternheit», «Verträumtheit», «sich ausgegrenzt fühlen», «ein Meer von Fragen» oder etwa «der Verlust eines Haustieres», heisst es dazu auf der Webseite der Sängerin. Ebenfalls im Kinderprogramm zu erleben ist die Thurgauer Autorin Tanja Kummer mit ihrem Buch „Luna, wie entsteht ein Buch?“

In Tandem-Lesungen reagieren Autorinnen aufeinander
Vielversprechend tönen auch die Tandem-Lesungen am Sonntag, 18. Juni. „Die Autorinnen gehen gegenseitig auf Ihre Texte ein. Im Fall der zwei Vorarlberger Autorinnen Erika Kronabitter und Ines Strohmaier ist es Lyrik. In einem zweiten Teil stellen sie noch unveröffentlichte Romanprojekte vor. Bei den beiden jungen Schweizerinnen Alice Kappel und Viviane Sonderegger, das zweite Tandem, lassen wir uns überraschen“, erklärt Literaturtage-Initiatorin Andrea Gerster auf Nachfrage von thurgaukultur.ch. Das komplette Programm des Festivals findet sich hier.
Fragt man Andrea Gerster danach, wie es kommt, dass ausgerechnet bei den Literaturtagen in Arbon immer wieder neue Wege der Literaturvermittlung gefunden werden, dann antwortet sie: „Das Programm ist das Produkt unserer Überlegungen, also von Ruth Erat und mir. Wir sind erfahrene Autorinnen und kennen uns in der deutschsprachigen Literaturszene sehr, sehr gut aus. Somit ergibt sich das Programm immer irgendwie von allein.“
Ein Besuch in diesem Jahr lohnt in jedem Fall. Es gibt viel zu entdecken.
Wie die Literaturtage Arbon entstanden sind
Die Literaturtage Arbon finden 2023 zum sechsten Mal statt. Entstanden sind sie im Zusammenhang mit der Initiative, den Verkauf des Hauses Max Burkhardt, eines eigentlichen Jugendstil-Gesamtkunstwerks, durch die Stadt zu verhindern. Im Zug dieser Arbeit wurde gezeigt, wie mit Kultur im Kammerformat ein Atelierhaus und Kulturgut von nationaler Bedeutung bespielt werden kann.
Dabei haben sich neben Führungen und Ausstellungen insbesondere Lesungen und Literaturgespräche etabliert. Für die letztere nutzt der Verein «Haus Max Burkhardt» die eine Woche im Sommer, in der sie neben dem Atelier und dem Aussenraum auch den roten und den grünen Salon zur Verfügung hat.
Entwickelt haben sich die Literaturtage Arbon aus einer lockeren Folge von Lesungen zu einer thematisch orientierten Literaturveranstaltung. Seit den Anfängen stehen dabei die Nähe zu Autorinnen und Autoren und die Begegnungen unter Schreibenden im Zentrum. Besondere Formen der Literaturvermittlung ermöglichen zudem unterschiedliche Zugänge zu literarischem Schaffen. Und Schreibende aus der Region erhalten eine Plattform und einen Rahmen für Gespräche – für ein intensives Miteinander und Zuhören.
Infos zu allen Anmeldungen gibt es hier.

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