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von Inka Grabowsky, 26.04.2021

Die Vielseitige

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„Ich wollte klären, was passiert, wenn die Räume begrenzt sind.": Die Schriftstellerinn Michèle Minelli über ihren Roman "Kapitulation". | © Anne Bürgisser

Ein Jugendbuch, ein Roman und ein Drehbuch: Die Schriftstellerin Michèle Minelli legt gleich drei neue Arbeiten vor. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Ihr Leben sei durchaus anders durch die Pandemie, sagt Michèle Minelli. „Anders“ heisst aber keinesfalls ereignisärmer. Zwar sind Lesungen ausgefallen, doch die Seminare im Schreibwerk Ost, bei denen sie mit ihrem Partner Peter Höner angehenden Schriftstellern und Schriftstellerinnen Tipps für die Arbeit gibt, gingen weiter.

Man trifft sich eben online statt persönlich im idyllischen Iselisberg oberhalb von Frauenfeld. Der Unterricht hat im Frühjahr Früchte getragen. Minelli und Höner haben einen Band mit Erzählungen ihrer Schützlinge herausgegeben.

„Je älter ich werde, desto mehr sehe ich, wie klein der Platz für Frauen in der Gesellschaft ist.“

Michèle Minelli, Autorin (Bild: Inka Grabowsky)

Das Jugendbuch „Chaos im Kopf“ und der Roman „Kapitulation“, die nun erschienen sind, sind nicht in der relativen Ruhe des Lockdowns entstanden. „Das eine war vorher schon fast fertig“, erklärt Minelli. „An sich arbeite ich sequentiell, aber trotzdem gibt es oft diverse Projekte in verschiedenen Stadien.“

Während sie an dem einem Buch schreibt, kommen die Korrekturen zum vorher verfassten. „Der Abstand ist durchaus hilfreich. Ich bin emotionsloser, wenn etwas Zeit zwischen Schreiben und Korrigieren verstrichen ist.“ So kam es zu den drei Veröffentlichungen in so kurzer Zeit.

Das zweite Jugendbuch

Schon 2018 mit „Passiert es heute? Passiert es jetzt?“ hatte Michèle Minelli das Genre Jugendbuch für sich entdeckt. Damals widmete sie sich Gewalt in der Familie und beschrieb die Wirkungen von ständiger Angst auf einen Jungen. Dieses Mal bei „Chaos im Kopf“ widmet sie sich den Problemen eines jungen Mädchens, das sich von der wenig hilfreichen Mutter emanzipieren muss, um seinen Weg zu finden.

Minelli erklärt ihre Forschungsfragen auf ihrer Homepage: „Wie stemmt ein knapp fünfzehnjähriges Mädchen die Aufgabe, Familiengeheimnisse unter dem Deckel zu halten und gleichzeitig ihrem eigenen Leben den richtigen Dreh zu verleihen? Wie findet sie aus dem Dilemma hinaus, sich der Mutter gegenüber loyal zu verhalten und dabei sich selbst treu zu bleiben? Wofür entscheidet sie sich, wenn der eigene Weg ein Verrat an der Familie bedeutet? Die Figur von Antonia nahm mich mit auf eine bewegende Reise in die Welt einer Jugendlichen im Kampf ums eigene Überleben.“

Kein Buch entsteht ohne Musik

Schriftstellerisch herausfordernd fand es Minelli, das Chaos im Kopf der Protagonistin zu schildern, ohne chaotisch zu schreiben und die Leser zu überfordern. „Ich musste anfänglich viel neu schreiben und kürzen, bis es eine Balance gab.“ Sie traue ihren jugendlichen Lesern viel zu. „Ich habe selbst als junges Mädchen gerne Problembücher gelesen. Ich wollte wissen, wie Menschen Probleme lösen und warum sie mitunter scheitern.“

Michèle Minelli hört Musik, während sie schreibt. Sie könne nicht ohne, sagt sie. Jedes ihrer Bücher habe einen „Enterpunkt“, mit dem es die Autorin für sich gewinnt. Von diesem Punkt geht die 52-Jährige aus, wenn sie die Musik auswählt, die leise in Endlosschleife die passende Grundnote schaffen soll – mal tröstlich, mal in den Abgrund führend.

Michèle Minelli und Peter Höner in der szenischen Lesung zu „Die Verlorene“ 2017. Bild: Inka Grabowsky

Diese Songs prägten die aktuellen Arbeiten

„Ich suche in Autoradio bewusst Sender, die ich sonst nie höre, oder ich bitte meinen Sohn, mir Playlists zu schicken. Er hört auch völlig andere Musik als ich. Und irgendwann gibt es dann in meinem Kopf eine Resonanz, dann weiss ich, das ist der Sound, der mich durch das Projekt trägt.“

Für „Chaos im Kopf“ diente ihr zunächst Sharon van Ettens zartes „One Day“ als Klangteppich. „Dieser Song zeigt am besten Antonias Lebensgefühl, das innere Zerreissen, der Drang, sich selber nah zu sein und ein Leben zu beginnen, das gelingen will.“ Als die Protagonistin Hoffnung schöpft, wechselte die Autorin zu hoffnungsfroherer Musik.

Video: Diesen Song hörte Michéle Minelli als sie ihren Jugendroman schrieb

Der Roman „Kapitulation“ beschreibt ein frauenbewegtes Panoptikum

Einem ganz anderen Soundtrack folgt der Roman „Kapitulation“. In der Recherche-Phase habe sie beispielsweise Citizen Copes „Bullet and a Target" gehört. „Das ist antreibende Musik, kantig und düster. Sie vermittelte mir eine innere Dringlichkeit, die genau zu meiner Aufgabe passte.“

In der Schreib-Phase liess sie sich dagegen von Emily Jane Whites „Wild Tigers I have known" begleiten. „Das setzt eine melancholische Grundnote, vermittelt auch das Gefühl, nach einem Kampf aufgeben zu müssen.“

„Ich bin emotionsloser, wenn etwas Zeit zwischen Schreiben und Korrigieren verstrichen ist.“

Michèle Minelli, Autorin

In „Kapitulation“ schildert Minelli das Kulturschaffen aus weiblicher Perspektive. „Je älter ich werde, desto mehr sehe ich, wie klein der Platz für Frauen in der Gesellschaft ist. Das will ich abbilden, ohne den Reflex gegen den Feminismus zu aktivieren. Ich kenne ihn von mir selbst und wollte ihn überlisten.“

Zu dem Zweck lässt sie eine sterbenskranke Kulturförderin fünf ehemalige Stipendiatinnen einladen. Alle fünf sind im Laufe der Jahre auf unterschiedlichste Weise und in unterschiedlichem Masse in und an der Männerwelt gescheitert. Der Roman sei ein auf die Spitze getriebenes Gedankenspiel. „Ich wollte klären, was passiert, wenn die Räume begrenzt sind. Die Herausforderung war es, über ein schweres Thema so schreiben, dass die Leser leicht hineinrutschen.“

Minelli hat sich bemüht, den erhobenen Zeigefinger nicht allzu deutlich sehen zu lassen. Niemand soll das Buch zuklappen, weil er ehe schon weiss, worauf eine Situation zuläuft. „Kapitulation“ sei auch formal ihr wichtigstes Buch, meint Minelli. „Alles, was ich dazu zu sagen habe, findet sich in den gedruckten Zeilen. Und in den Leerstellen dazwischen.“

Aus dem Roman „Die Verlorene“ wird ein Film

Aktuell beschäftigt sich Michèle Minelli mit einem altbekannten Thema. Sie arbeitet ihren 2015 erschienen Roman „Die Verlorene“ zu einem Drehbuch mit dem Arbeitstitel „Friedas Fall“ um. Erzählt wird nach wie vor die historisch belegte Geschichte von Frieda Keller, die nach Vergewaltigung schwanger wird, ihr Kind tötet und nur knapp der Todesstrafe entkommt. „Erst wollte ich gar nicht. Ich hatte schon andere Stoffe für Romane im Kopf und dachte, nicht schon wieder Frieda Keller, aber dann hat es mich doch gepackt.“

Minelli ist nicht fremd in der Filmwelt. Sie war als junge Frau Produktionsleiterin und hatte 1997 als Regisseurin einen preisgekrönten Dokumentarfilm über Przewalski-Pferde für Arte und das Schweizer Fernsehen realisiert.

Video: Lesung aus „Die Verlorene“

 

Die alten Rechercheordner sind jetzt wieder wertvoll

Es ist jedoch das erste Spielfilm-Drehbuch, das sie verfasst. „Ich sehe ein, dass ich im Vergleich zum Roman vieles ändern muss. Beim Film sind Kosten und zur Verfügung stehende Zeit starke Argumente. Ein Bild muss zeigen, was man meint. Im Buch konnte ich ein paar Sätze mehr schreiben, um etwas zu erklären.“

Während der Roman sich um Friedas ganzes Leben dreht, soll sich der Film auf den Gerichtsprozess beschränken. Stoff hat die Autorin genug. „Inhaltlich ist es leicht für mich, weil ich den Stoff und die Figuren kenne. Ich haben sechs Rechercheordner auf dem Estrich.“ 

Wenn also der Dramaturg, der ihr beratend zur Seite steht, anmerkt, dass die Stimmung jetzt viel zu düster sei und es eine Figur brauche, die verhindert, dass die Zuschauer im Kino weinend den Saal verlassen, dann könne sie aus dem Vollen schöpfen. „Der Staatsanwalt und Direktor des Untersuchungsgefängnisses hat nun eine Frau, die für die Gefangenen kochen muss. Sie reagiert natürlich auf die Kindsmörderin. Das ist reizvoll.“

Vor dem Projekt lagen diverse Hürden

Dass aus dem Roman nun überhaupt ein Film wird, liegt daran, dass der Aufbau-Verlag eine Option auf die Filmrechte an Condor-Film verkauft hatte. Freilich bedeutet das nicht automatisch, dass die Roman-Autorin auch das Drehbuch schreibt. Ein Wettbewerb des Kulturamts St Gallen öffnete ihr die Türen.

Dafür hatte sie ein kurzes Konzept eingereicht. Als eine der Gewinnerinnen bekam sie genug Preisgeld, um das Schreiben eines zwanzig-seitigen ersten Treatments zu finanzieren, in dem auf sehr wenig Platz der ganze Film beschrieben wird.

Michèle Minelli und Peter Höner in der szenischen Lesung zu „Passiert es heute? Passiert es jetzt?“ 2018. Bild: Inka Grabowsky

Der Schmerz der Kürzungen

Als nächstes stand ein Bilder-Treatment an, in dem sie aufführte, was man wann zeigen muss. „Für die Handlung hat man 50 bis 60 Seiten. Jetzt sitze ich gerade an der 2. Fassung des Drehbuchs. Es hat viel weniger Text als der Roman, ich muss ja weniger beschreiben. Es heisst einfach: Bischofszell, Tag, aussen“.

Die Kürzungssitzung nach der vierten oder fünften Fassung nötigt ihr noch etwas Respekt ab. „Das dürfte schmerzhaft werden, weil ich gute Argumente brauchen werde, weshalb man diese oder jene Szene unbedingt braucht.“

Die grosse Kunst, ein Projekt auch loslassen zu können

Sobald das Drehbuch akzeptiert ist, wird sich die Autorin zurückziehen. „Ich werde mich beim Drehen von meinem Kind lösen müssen. Ich übergebe es dem Regisseur oder der Regisseurin, und es wird ein neues Produkt daraus.“

 

Alle Veröffentlichungen: Wann erscheint was?

„Chaos Im Kopf“ erschien im Januar im Jungbrunnen Verlag. Es wird am 10. Juni offiziell in der Theaterwerkstatt Gleis 5 vorgestellt. „Kapitulation“, erschienen im März bei Lectorbooks, wird am 29. April im Literaturhaus Thurgau getauft.

 

 

 

 

 

 

 

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