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… und wo bleibt der Täter?

… und wo bleibt der Täter?
Affinität für Tabuthemen und vertrackte Geschichten: Michèle Minelli. | © Kathrin Zellweger

Der Stoff zu ihrem Roman "Die Verlorene" kam wie ein Geschenk zu Michèle Minelli. Ein Gespräch mit der Autorin über einen Justizskandal, der in Bischofszell begann und in Münsterlingen endete.

Kathrin Zellweger

Ein unscheinbares Kistchen mit den Gerichtsakten, der Krankengeschichte und dem Lebenslauf einer zum Tod verurteilten und dann begnadigten Frau aus der Ostschweiz wurde Michèle Minelli im Herbst 2012 von einem Journalisten übergeben. Sie war skeptisch. Weshalb sollte ihr jemand, der selbst schreibt, gratis und franko einen solchen Stoff anbieten? Sie setzte sich hin und begann zu lesen. Minelli, die eine Affinität für Tabuthemen und vertrackte Geschichten zu haben scheint, wusste danach: Dieses Leben will ich nacherzählen.

Denn Frieda Keller, die Frau, die ihr in diesen Akten entgegenkam, war nicht einfach eine geknechtete Person, sondern lange Zeit auch eine Kämpferin, die hoffte, dass ihr vor dem Strafgesetz doch noch Recht widerfahren würde. "Ich fühlte mit dieser Frau, sie war mir in gewissem Sinn vertraut. Beim Lesen der Akten wurde ich nicht wütend, sondern war fassungslos über diese scheinheilige, männerbevorzugende Justiz, welche nie nach dem Täter fragte."

Der einzige Ausweg

Zum Romaninhalt: Frieda Kellers Arbeitgeber, ein in Bischofszell bekannter notorischer Schürzenjäger, vergewaltigt sie. In der Anonymität der Stadt St. Gallen taucht die 20-jährige ledige Mutter unter, den Knaben bringt sie in eine Kinderbewahranstalt. Frieda schafft es nicht, das Geld für Kost und Logis für ihr Kind zu verdienen. In ihrer Verzweiflung geht sie mit Ernstli in den Wald – und kehrt allein zurück. Das war 1904. Daraufhin wird sie zum Tod verurteilt, schliesslich begnadigt. Die letzten Lebensjahre bis zu ihrem Tod verbringt sie in der Psychiatrischen Klinik in Münsterlingen, wo man sie ständig auf ihre Tat anspricht, obschon sie ihre Strafe verbüsst hat. Diese Frau heisst zwar Frieda, aber in Frieden lässt man sie nie.

"Das Schreiben war wahrscheinlich meine Rettung", sagt Michèle Minelli. (Bild: Kathrin Zellweger)

Sachbücher und Romane

Michèle Minelli, 46, war Dokumentarfilmerin, schreibt heute Sachbücher und Romane, u.a. die Familiensaga "Die Ruhelosen" und den Krimi "Wassergrab". In "Die Verlorene" erzählt sie anhand von Gerichts- und Krankenakten die Geschichte von Frieda Keller, die in die Mühlen der männerdominierten Justiz geraten war. Michèle Minelli ist Dozentin für kreatives Schreiben, hat einen erwachsenen Sohn und lebt in Otelfingen.


Aus dem kleinen Konvolut an Akten, das ihr im doppelten Wortsinn in die Hand gelegt wurde, wurden schliesslich sieben Ordner an kopierten und fotografierten Dokumenten, die ihr die Staatsarchive St. Gallen und Thurgau zur Verfügung stellten: Zeugeneinvernahmen, Arbeitszeugnisse, Zeitungsausschnitte. Ausser diesen offiziellen Belegen machte sich Minelli Notizen von den Besuchen an den Orten des Geschehens: das Elternhaus von Frieda, die Psychiatrische Klinik in Münsterlingen, die Kinderbewahranstalt in St. Gallen, der Gerichtssaal, die Gefängniszelle.

"Um allfällige Nachfahren von nicht im Fall involvierten Personen zu schützen, beschlossen die Kantonsarchivare und ich, deren Namen zu ändern." Rechtlich ist die Autorin damit abgesichert. "Was ich in meinem Roman schreibe, ist alles belegbar. Einzig für die Kindheit habe ich mir Fiktion erlaubt; hier beschreibe ich ein naturliebendes, verspieltes Mädchen."

Das Unverständliche verstehen

Nach diesen intensiven Recherchen hatte Michèle Minelli nicht nur genügend Material beisammen, auch ihr Kopf und ihr Herz waren zum Bersten angefüllt mit Frieda Kellers Geschichte, so dass sie wie in einem Rausch deren Geschichte niederschreiben konnte. Nach knapp vier Wochen lag die erste Rohfassung vor. Nach den intensiven und auch belastenden Stunden in Archiven oder am Schreibtisch befreite sie sich jeweils velofahrend wieder von der Bigotterie und Selbstgerechtigkeit, die ihr aus den Akten entgegengesprungen waren.

"Die Verlorene" ist nicht ihr erstes Buch, das sich mit einem Tabuthema befasst. Hat sie eine Affinität für Abgründe? Nein, es seien nicht die Abgründe, die sie interessierten, sondern die Brüche in Lebensgeschichten, entgegnet Michèle Minelli, "weil diese deutlich machen, wie ein Mensch damit umgeht, ob und wie viel psychische Widerstandsfähigkeit in ihm angelegt ist". Nur in einem Nebensatz fügt die 46-Jährige an, dass auch ihr Leben nicht wie am Schnürchen verlaufen sei und dass ihr Interesse für solche Themen vielleicht damit zu tun habe …

Als kleines Kind hatte sie eine Phase, in der sie sich weigerte zu sprechen. Ohne wirklich schreiben zu können, schrieb sie in einer Art Schrift für sich auf, was sie sagen wollte und gab diese Zettelchen den Erwachsenen. "Erst mich 16 Jahren habe ich mich redend geöffnet. Das Schreiben war mir näher, es war wahrscheinlich auch meine Rettung."

Lesungen im Thurgau

• Frauenfeld, Kantonsbibliothek: 7. Mai, 19.30 Uhr
(Szenische Lesung mit Peter Höner, Schauspieler/Autor/Regisseur)
• Bischofszell, Aula Sandbänkli: 11. September, 20 Uhr
• Amriswil, St. Gallerstrasse 21: 17. Oktober, 11 Uhr, Irmgard und Gallus Frei-Tomic, (Hauslesung)

Zuerst das Thema dann das Genre

Bis sie dreissig Jahre alt war, arbeitete sie auch als Dokumentarfilmerin. Zugunsten der Zeit mit ihrem Sohn hörte sie damit auf und hat es nie bereut. Zu zermürbend ist die Geldsuche, zu viele Menschen mischen sich in ein Projekt ein. "Mein Schreiben ist gar nicht so anders als Filmen: Wenn ich am Schreibtisch sitze, ist es, als ob ich den Film, den ich im Kopf habe, zu Papier brächte. Eine Art Filmsekretärin, auch wenn das Produkt schliesslich ein Roman ist. Ein Buch befriedigt mich mehr als ein Film."

Bis etwa im Jahr 2011 bezeichnete sich Michèle Minelli als Autorin, weil sie in verschiedenen Genres schrieb. "Zuerst ist immer das Thema; erst hernach entscheide ich, ob daraus ein Sachbuch, eine Reportage oder ein Roman entstehen soll." Mit ihrem Roman "Die Ruhelosen" wagte sie es schliesslich, sich Schriftstellerin zu nennen. Mittlerweile weiss sei, dass sie vermehrt und lieber belletristisch schreiben will, auch wenn intensive Vorarbeit und Recherche nötig sind.

"Die Verlorene", Aufbau Verlag, ISBN 978-3-351-03595-2.

Die Ungleichbehandlung von Frau und Mann, wie der Fall Frieda Keller in "Die Verlorene" drastisch vor Augen führt, sei noch nicht überwunden, sagt Minelli. "Auch bei Lesungen kommt es vor, dass männlichen Autoren mehr bezahlt wird als ihren weiblichen Kolleginnen. Das habe ich selbst erfahren müssen. Sogar Buchrezensionen sind nicht frei von Sexismus. Schreibt eine Frau über eine weibliche Protagonistin, kommt es vor, dass man ihr mangelnde Distanz und Gefühlsduselei vorwirft. Schreibt ein Mann über eine Frau, wird er dafür gelobt, wie gut er sich einfühlen kann und wie sensibel er ist."

Noch immer passiert es Schriftstellerinnen, dass sie in die Schublade "Hausfrau, die nebenher noch etwas schreibt" abgeschoben werden. "Ich hoffe, mir geht die Kraft nicht aus, nicht nur für mich, sondern grundsätzlich gegen solche und ähnliche Ungleichbehandlungen anzukämpfen."


***

Weitere Lesetermine und Informationen:

www.mminelli.ch

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