von Andrin Uetz, 26.07.2022
Ein Klangspaziergang für daheim
Das Projekt „Solos & Sights“ brachte 12 verschiedene Musiker:innen auf einem Stadtspaziergang durch Frauenfeld zusammen. Jetzt kann man das alles auch vom Sofa aus nacherleben. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Es war von Anfang an ein aussergewöhnliches Projekt. Bei „Solos & Sights” fanden Musiker:innen zusammen, die sich sonst vermutlich nie getroffen hätten. Zwölf Musiker:innen spielten an verschiedenen Stationen eines Spaziergangs durch Frauenfeld.
Ihnen allen ist gemein, dass sie in den letzten Jahren in den Bodenseeraum migrierten. Solos & Sights versucht damit Musiker:innen eine Chance zu geben, welche vom Kulturfördersystem (noch) nicht erfasst sind.
Das Konzept des Spaziergangs
Warum ein Spaziergang? Mehr noch als im Konzertsaal wird das Publikum bei einem Wanderkonzert Teil der Aufführung. Eine Gruppe von Menschen, die sich gemeinsam durch den öffentlichen Raum bewegen, tangiert automatisch auch eine politische Dimension.
Zumindest für die Dauer des Spaziergangs stehen die Teilnehmenden gemeinsam für etwas ein, werden als Gruppe und Einheit wahrgenommen. So überqueren beim Nachmittäglichen Spaziergang rund sechzig Gäste die Murg über den Baliersteig, um sich dann im Schatten von vier Platanen auf einem Kiesplatz das erste Konzert (ab Minute 13:30) von Nihad Sayed Khalil (Tambur) anzuhören.
Für diesen Spaziergang haben die Initiator:innen einige Besucher:innen mit In-Ear-Mikrophonen ausgestattet. Die so erstellten Aufnahmen erlauben es – insbesondere beim Hören mit Kopfhörern – die Aufführungen quasi mit den Ohren dieser Personen nachzuhören. Wir betten die verschiedenen Perspektiven hier nacheinander in den Text ein.
Perspektive #1: Reinhören
Hinter dem Schloss Frauenfeld geht es über eine unscheinbare Treppe hoch über die St. Gallerstrasse am Café Promenade vorbei zu den Glasbauten des Hochbauamts sowie des Amts für Wirtschaft und Arbeit des Kantons. Dort stellt sich die Sängerin Paria Tavakoli auf einen Lichtschacht und singt mit kräftiger Stimme (ab Minute 24:00).
Perspektive #2: Reinhören
Städte für Menschen
Aus stadtplanerischer Sicht bietet der Spaziergang durch Frauenfeld einiges an Abwechslung. Durch kleine Gassen geht es über Brücken, um Ecken, ist abwechslungsreich und voller Überraschungen. Orte und Unorte werden durch die Konzertsituation umgedeutet.
Etwa, wenn eine Parkgarage vom Kontrabassisten Luis Fernando Hidalog Gutierrez bespielt wird (ab Minute 49:20), oder selbst dann, wenn die grosse Gruppe von Fussgänger:innen eine Strasse überquert, und damit ewigen Verkehr in der Hauptstadt des Auto-Kantons Thurgau unterbricht. Für wen ist diese Stadt gebaut? Für Autos oder für Fussgänger:innen?
Perspektive #3: Reinhören
Was heisst öffentlicher Raum?
Die Route führt weiter durch den Botanischen Garten vorbei am Staatsarchiv über Parkplätze und durch Unterführungen auf die andere Seite der Bahnlinie bis zum Eisenwerk, vorbei an anonymen Wohnblocks, durch den Lindenpark, zum Cinema Luna und abschliessend zur Terrasse des Kulturamts.
Die Konzerte sind nicht nur stilistisch vielseitig, sondern können auch durch die spontanen Bühnen überraschen: Pastorale Szenen mit Laute und Gesang im Schatten lauschiger Bäume, geräumigen Hinterhöfe, welche akustische Nischen der Stille innerhalb des Rauschens der Stadt ermöglichen, schallenden Unterführungen, vergessene Flecken zwischen Parkplätzen und Gewerbeflächen.
Die Musiker:innen bringen diese Orte zum Klingen, die Aufmerksamkeit der Wandergruppe transformiert Unorte in öffentlichen Raum.
Geteilte Perspektiven
Der gemeinsame Spaziergang scheint dabei genauso wichtig zu sein wie die Stationen der Konzerte. Wie von selbst entstehen Gespräche, Kulturbeamt:innen, Gäste und Musiker:innen gehen nebeneinander, teilen Weg und Perspektive. Dabei schafft die Gruppe auch so etwas wie einen Safe Space.
Leider ist es für Frauen und Personen, die als Nicht-Schweizerisch gelesen werden, nicht selbstverständlich, unbehelligt durch eine Stadt flanieren zu können. Der typische Flaneur ist weiss, männlich, wohlhabend und frei von haushälterischen Pflichten.
Der gemeinsame Spaziergang kann einen Raum für Inklusion und Diversität schaffen und der Diskriminierung eine Kraft der Gemeinschaft entgegenhalten. Bei Solos & Sights in Frauenfeld ist das wunderbar aufgegangen, doch die Fragen bleiben im Raum: Wer darf in der Schweiz unter welchen Bedingungen Kultur schaffen? Wer wird (im System) als Musiker:in und Künstler:in wahrgenommen, wer als Person mit Migrationshintergrund?
Am 25. Juni war es für verschiedene Musiker:innen möglich im öffentlichen Raum von Frauenfeld aufzutreten. Es wurde auf politischer Ebene ein Rahmen dafür geschaffen, wir hatten eine Bewilligung, sogar das Wetter spielte mit. Der Zugang zum öffentlichen Raum ist keine Selbstverständlichkeit.
Hörperspektiven – zur Aufnahmetechnik
Für die zwei Spaziergänge wurden jeweils drei Hörer:innen mit In-Ear-Mikrophonen ausgestattet. Die so erstellten Aufnahmen erlauben es – insbesondere beim Hören mit Kopfhörern – die Aufführungen quasi mit den Ohren dieser Personen nachzuhören, und so dem immersiven Erlebnis des Klangspaziergangs beizuwohnen. Interessant ist dabei, den gleichen Spaziergang aus verschiedenen Positionen miterleben zu können. Dabei geht es nicht um perfekte Klangaufnahmen der Konzerte, denn ganz im Gegenteil sind auch Stimmen und Stadtgeräusche zu vernehmen. Es sind keine anonymen und vermeintlich-objektive Aufnahmen von Profis, sondern Zeugnisse des subjektiven Hörerlebnis der Teilnehmer:innen.
Das Projekt Solos & Sights entstand im Rahmen der Künstlerbegegnung der Internationalen Bodensee Konferenz (IBK). Das Kulturamt des Kantons Thurgau war für die Ausgabe in diesem Jahr verantwortlich. Die Musikerin Simone Keller leitete das Vorhaben gemeinsam mit dem Künstler San Keller, Regisseur Erik Altorfer und Schriftsteller Usama Al Shahmani.
Stationen Spaziergang (Nachmittag/Abend)
Falls du eine:n bestimmte:n Künstler:in hören willst, hier findest du die genauen Zeitdaten, wann die einzelnen Künstler:innen aufgetreten sind.
Nihad Sayed Khalil, Kiesplatz Murg (14:00/15:40)
Paria Tavakoli, Hinterhof Hochbauamt (24:00/28:18)
Moaz Al Shamma, Botanischer Garten (37:28/36:15)
Luis Fernando Hidalog Gutierrez, Treppe Tiefgarage (49:00/57:55)
Berivan Karaman Altun, Unteres Mätteli (1:08:00/1:17:25)
Marwan Jabr, Murg Auen Park (1:19:40/1:28:20)
Lynn Animo, Hinterhof Wohnblocks Mühlwiesenweg (1:34:55/1:44:50)
NATION ZERO/Rami Msallam, Eisenwerk (1:43:00/2:07:56)
Mc Manar/Manar Bojaerami, Eisenwerk (1:57:00/1:59:30)
Kamran Raman, Cinema Luna/Kulturamt (2:17:45/3:01:55)
Serenat Ezgican Akkurt, Jugendtreff/Cinema Luna (2:27:45/2:46:50)
Abathar Kmash, Kulturamt/Cinema Luna (2:47:00/2:37:40)
Überraschungssolo Abend: Nas (48:55)
Weitere Beiträge von Andrin Uetz
- Der Boden, auf dem wir stehen (06.05.2024)
- Zu Unrecht fast vergessen (28.03.2024)
- Feinsinnige Klangfarben und packende Soli (21.02.2024)
- „Gute Vernetzung ist wichtig” (01.02.2024)
- «Es ist faszinierend, wie alles zusammenkommt» (13.11.2023)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Musik
Kommt vor in diesen Interessen
- Reportage
- Weltmusik
Ähnliche Beiträge
Feinsinnige Klangfarben und packende Soli
Das Sarah Chaksad Large Ensemble gastiert mit einem neuen Album am 23. Februar im Eisenwerk Frauenfeld. Warum sich ein Besuch lohnt. mehr
Ein Abend voller Stimm-Magie
Die Sängerin Irina Ungureanu gastierte mit ihrer Band Grünes Blatt im Eisenwerk. Ihre groovige Interpretation rumänischer Volksmusik zauberten den Zuhörenden ein Klangfeuerwerk in die Ohren. mehr
Musik als Brückenbauerin
Am Sonntag startete in Romanshorn die neue Klangreich-Saison mit dem Titel „In a silent way“. Den Auftakt machte der Fribourger Pianist Florian Favre mit seinem Projekt „Idantitâ“. mehr