von Brigitte Elsner-Heller, 10.08.2020
Der Mensch ist Mensch, wenn er erzählt
Boccaccio hat der Welt sein „Decamerone“ hinterlassen. Anlass für die Frauenfelder „Theaterwerkstatt Gleis 5“, ein gerüttelt Mass an Komik auf die Bühne zu bringen. Zum grossen Vergnügen des Publikums.
Es ist ruhig in Frauenfeld an diesem heissen Sommerabend. Die Geschäfte sind bereits geschlossen, der Bankplatz liegt verlassen da, wie aus der Zeit gefallen. Passanten? Fehlanzeige. Doch direkt vor dem Bernerhaus rührt sich etwas. Dort ist ein Areal abgesperrt, drei Lieferwagen verraten, dass hier die Theaterwerkstatt zugange ist. Mit aller Vorsicht, versteht sich, denn wir schreiben das Jahr 2020 und haben schon jede Menge Theater mit der Corona-Pandemie.
Peu à peu versammeln sich doch Menschen, die zur Vorstellung auf ihre Plätze geführt werden. Von seltsamen schwarzen Gestalten mit Masken, die sie wie Vögel aussehen lassen, die sich auf ihre Beute stürzen wollen. Doch wir (er)kennen das Bild: Es handelt sich um Pestmasken, die während der grossen Epidemien von Ärzten getragen wurden. Einstimmung auf „Decamerone“ von Boccaccio.
Boccacios Leidenschaft für körperliche Begierden
Das „Hundert-Tage-Werk“ Boccaccios, der die Pest 1348 in Florenz miterlebte und deren Auswirkungen im Vorwort auch drastisch schildert, wächst jedoch mit seinen hundert Novellen über den blossen Schrecken hinaus. Um nicht zu sagen, Boccaccio hält sich mehr an die Dinge, die Vergnügen bereiten, was hier in erster Linie mit körperlichen Begierden einher geht.
Aber auch die Blossstellung des Klerus, der es mit der „Moral“, die er selbst dem Christentum eingeschrieben hat, nicht so genau nimmt. Boccaccio feiert dabei oft die Siege der kleinen Leute. Und das, obwohl er zehn offenbar begüterte Personen, die mit ihrer Dienerschaft vor der Pest auf ein Landgut geflohen sind, die Geschichten erzählen lässt. Der Mensch ist nur da Mensch, wo er erzählt, wird die Truppe der Theaterwerkstatt am Schluss unter Applaus sagen. Aber noch sind wir nicht soweit, wir haben das große Welttheater auf dieser kleinen Bühne noch vor uns.
Die schnelle und süffisante Annäherung an Weltliteratur
Der Schaffhauser Musiker Goran Kovačević gibt mit seinem Akkordeon den Auftakt. Schon während des Einlasses hatte er wiederholt die wunderbar schrägen Halbtonfolgen der Eingangsfanfare von „Miles and Miles of Miles Davis“ von Malcom McLaren zitiert und damit auf das Thema Provokation und Genius angespielt. Ein kleiner Geniestreich wird auch diese Adaption von Boccaccios Decamerone durch die Theaterwerkstatt werden, die nun keinesfalls hundert Tage Zeit hatte, um sich der „Pestlektüre“ anzunähern.
Die Provokation fällt aber eher milde aus, denn die Truppe hat darauf geachtet, keine allzu drastischen Manöver auf die Bühne zu bringen. Der Ton, der angeschlagen wird, ist heiter bis extrem lustig, und man merkt den Schauspielern an, dass sie es geniessen, endlich mal wieder vor Publikum zu stehen. Bisweilen scheinen sie sich dabei über ihre eigenen Einfälle prächtig zu amüsieren. Zu recht.
Mit Grillengezirpe in Richtung Toskana!
Im Wiegeschritt kommen sie als Mönche oder Nonnen in Reihe daher, um die Geschichte ans Laufen zu bringen. Vorstellung des Themas: Decamerone von Boccaccio, ein Werk, das keiner wohl wirklich gelesen hatte, wie gemutmasst wird. Niemand bis auf Monty natürlich. Monty? Sehr wohl. Der berühmte Hund der Puppenspielerin Rahel Wohlgensinger ist mit von der Partie, und auch ein Kostüm auf einem Bügel muss später als Figur einspringen. Schliesslich braucht es zehn Personen, um dem Decamerone gerecht zu werden. Zudem ein wenig Grillengezirpe, um die Sache in die Toskana zu transferieren.
Eine wilde Mischung aus clownesken Elementen, pantomimisch ausgeführten grossen Gesten, aus bis zur Unkenntlichkeit deformiertem Pathos und ausgelassenem Frohsinn folgt. Und die Geschichten geben es fürwahr auch her.
Der Klerus gibt immer eine Geschichte her
Da wäre doch zum Beispiel gleich einmal der Mönch Cipolla (Einstand von Noce Noseda, der zusammen mit Simon Engeli auch Regie führt), der es schafft, ein Malheur rhetorisch in einen Erfolg umzumünzen. Da sein Diener (Joe Fenner) sich lieber der holden Weiblichkeit (Nicole Steiner) hingegeben hatte, anstatt auf ein Kästchen aufzupassen, befinden sich darin nun lediglich Kohlen, als er der Gemeinde die Kraft göttlicher Fügung erläutern will.
Noce Noseda nutzt die „Kohlenpredigt“ unter Zuhilfenahme allerlei unsinniger italienischer Versatzstücke, um dem Landvolk temporeich klarzumachen, dass es sich hierbei um die Kohlen handle, mit denen der Märtyrer Laurentius geröstet worden sei. Wie schön, dass der Spott – politisch keinesfalls korrekt – hier auch mal das Volk mit (be)trifft.
Wunderbare Schmankerl
Boccaccio hält einige wunderbare Schmankerl für Theaterwerkstatt wie auch ZuschauerInnen bereit, wobei seine Lust, den Klerus lächerlich zu machen, bei diesem damals auf wenig Wohlwollen stiess. Die zweite Erzählung des neunten Tages lässt sich auch wunderbar auf die Bühne bringen. Denn eine hübsche junge Nonne (Silvana Peterelli) nimmt sich einen Liebhaber mit in ihr Gemach, was den übrigen Klosterbewohnern nicht verborgen bleibt (ja, es wird kräftig gejodelt).
Das muss natürlich sofort der Äbtissin offenbart werden (Nicole Steiner). Die jedoch ist zufällig gerade mit dem Gärtner zugange, sodass die gute Frau sich schnell etwas überziehen muss, um die unkeusche Nonne noch in flagranti zur Rede stellen zu können. Dumm nur, dass es sich dabei ausgerechnet um die Beinkleider ihres Bettgenossen handelt.
Monty will immer nur das Eine
Monty versucht es – Heiterkeit beim Publikum! – immer wieder, seine Lieblingsgeschichte zur Sprache zu bringen: die Geschichte von der Verwandlung einer Frau in eine Stute. Will meinen: „direkt zum Sex!“ Soweit will man auf dem Bankplatz dann aber nicht gehen. „Monty! Pfui!“, tadelt ihn Simon Engeli dafür mehr oder doch weniger überzeugend.
Also jetzt noch etwas moralisch Ehrenwertes wie die Geschichte vom Falken. Da opfert nämlich Federigo (Simon Engeli) nicht nur sein gesamtes Vermögen für seine angebetete Dame, sondern am Ende auch seinen Falken. Das Federvieh, dem also ein trauriges Ende bereitet wird, ist eine Puppe auf der Hand Rahel Wohlgensingers, der trotzdem unmittelbar das ganze Mitleid des Publikums gilt. Das Candlelight-Dinner wird von Goran Kovačević mit Brubecks „Take Five“ untermalt.
Ein Vergnügen durch und durch
Was für eine Weltenchronik, wie amüsant und einfallsreich erzählt! Dass es sich um eine schnelle und spontane Produktion handelt, ist nicht zu spüren, ausser vielleicht, dass sie dadurch mehr denn je die Frische alles Neuen mitbringt. Ein Vergnügen durch und durch, das – trotz nicht eben schöner Zeiten für alle Kulturschaffenden – die komischen Seiten dieser Theatermenschen aufs Schönste zum Vorschein bringt.
Weitere Aufführungen
Mit „Decamerone“ geht die Theaterwerkstatt in sieben Städte der Ostschweiz auf Tournee. Alle Termine und Orte gibt es bei uns in der Agenda. Tickets und weitere Informationen gibt es unter www.theaterwerkstatt.ch
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