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Keine Angst vor grossen Themen

Keine Angst vor grossen Themen
Besucher vor Cécile Hummels «Distant Glance» im Kunstraum Kreuzlingen | © Caroline Minjolle, Kulturstiftung des Kantons Thurgau

Jung trifft alt, Malerei trifft Video, Konkretes trifft Allgemeines: Im Kunstraum Kreuzlingen wagt die Werkschau Thurgau 2019 einen grossen Spagat. Und wirbt so auch für mehr gesellschaftliche Diversität.

Nein, man kann nicht sagen, dass diese Werkschau Thurgau 2019 aktuelle und gesellschaftlich relevante Themen scheute. Exemplarisch sehen kann man das in der Ausstellung im Kunstraum Kreuzlingen. Kurator Richard Tisserand hat hier virulente Fragen aus Kunst und Gesellschaft versammelt: Wie gehen wir um mit Kulturgütern, die wir in Zeiten des Kolonialismus ihrer eigentlichen Heimat entrissen haben? Ist es richtig, alte Gebäude detailgenau wieder zu rekonstruieren? Wie steht es um den Feminismus in der Gesellschaft? Fühlen wir uns noch wohl in unserer Haut oder schlüpfen wir längst lieber in Variationen von Zweithäuten?

All diese und viele weitere Fragen berührt die Werkschau im Kreuzlinger Kunstraum & Tiefparterre. Das dominanteste Werk ist sicher „Distant Glance“ von Cécile Hummel (*1962). Es entspannt sich über eine ganze Wandbreite im hinteren Teil der Ausstellung. Hummel, aufgewachsen in Gottlieben, kombiniert hier Fotografien mit Zeichnungen. In den Fotos hat sie Exponate indigener Kunst aus Ausstellungen mit Kunst und Kulturobjekten aus Papua-Neuguniea und Benin in der Kunsthalle Basel und im Museum of Modern Art New York 1962 beziehungsweise 1935 dokumentiert. Dazu hat sie die Aufnahmen aus den Museumsarchiven abfotografiert, ihre Finger sind stets sichtbar.

Detail aus Cécile Hummel «Distant Glance» . Bild: Caroline Minjolle, Kulturstiftung des Kantons Thurgau

Ist Griechenland der gemeinsame menschliche Nenner?

Hinter die über die gesamte Breite verteilten Fotografien hat die Künstlerin direkt auf die Wand riesige griechische Amphoren gezeichnet. Mal in grau, mal in leuchtendem orange. Die Fragen, die dahinter liegen sind offensichtlich: Darf man sich fremden kulturellen Hintergrund einfach so aneignen? Was wird aus den Objekten, wenn sie plötzlich in ganz anderen Kontexten gezeigt werden? Und gibt es bei allen Differenzen doch so etwas wie einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund, der uns alle verbindet? Cécile Hummel hat jedenfalls eine Vermutung: Die grossflächigen Amphorenzeichnungen deuten in Richtung des antiken Griechenland. „Distant Glance“ überwältigt im ersten Blick durch seine schiere Grösse, die Arbeit bietet aber so viele kleinteilige Entdeckungen, dass sie auch im Detail zu überzeugen vermag.

Wenn man so will, dann beschäftigt sich auch Susanne Hefti (*1984) mit Vergangenheitsbewältigung. Ihre installative Arbeit „Königgrätz, Neumarkt, Palast“, eine Mischung aus Video, Text und Fotografie, betrachtet die politische Dimension von Architektur und Städtebau und hinterfragt, das in manchen Städten zuletzt angewandte Prinzip der Rekonstruktionsarchitektur. Also alte, zerstörte Gebäude originalgetreu wieder aufzubauen. 

Dieter Hall «Marokko». Bild: Caroline Minjolle, Kulturstiftung des Kantons Thurgau

Ist Rekonstruktionsarchitektur rechtsextrem?

Als Beispiele dienen für die aus Sulgen stammende Hefti das Berliner Stadtschloss, der Wiederaufbau der Dresdner Altstadt sowie die Rekonstruktion des Römers in Frankfurt am Main. Die Unnatürlichkeit und Künstlichkeit dieser Wiederaufbauten betrachtet die Künstlerin skeptisch. Mit Argwohn sieht sie vor allem die Instrumentalisierung dieser Nostalgie-Projekte durch Rechtspopulisten. „Königgrätz, Neumarkt, Palast“ ist eine nachdenkliche Arbeit, der es aber nicht ganz gelingt, das allgemein Gültige aus den konkreten Projekten zu destillieren.

Das geht bei anderen Arbeiten besser auf. Vielleicht auch deshalb, weil sie sich nicht mit Einzelfällen aufhalten, sondern gleich ins grosse Ganze zielen: Karin Schwarzbek (*1969) mit ihren zarten, gleichwohl kraftvollen Hinterfragungen von Körperlichkeit, Identität, ersten und zweiten Häuten, Dieter Hall (*1955) mit seinem farbrauschigen Malereien aus dem Bilderzyklus „Marokko“ oder Rhona Mühlebach (*1990) mit ihrer Videoinstallation „The River, The Horse & The Woman“. 

Rhona Mühlebach: «The River, The Horse & The Woman». Bild: Caroline Minjolle, Kulturstiftung des Kantons Thurgau

Rhona Mühlebach entführt in schottische Weiten

Um die zu sehen, muss man ein paar Stufen hinab ins Tiefparterre steigen. Wie bei grossen Filmpremieren stehen im Raum verteilt drei grosse Stoffbanner, die Aufmerksamkeit schaffen sollen. In der Mitte des Kellergeschosses zwei Leinwände, eine davon so konturiert, dass die Künstlerin darauf in Lebensgrösse projiziert werden kann. Es eröffnet die Möglichkeit des Dialogs zwischen den Bildschirmebenen. Mühlebach, die diesen Sommer mit einem Atelierstipendium in New York verbrachte, nimmt die Zuschauer in ihrem Film mit auf eine Reise in die schottische Gegend „The Borders“, dem so genannten Wilden Westen Schottlands.

Oberflächlich betrachtet geht es um die Beziehungen zwischen den Frauen, ihren Pferden und dem Fluss, in der deutschen Untertitelung die Flüssin, in einer wilden Landschaft. Aber dahinter steht auch die Frage nach dem grundsätzlichen Status von Weiblichkeit in unserer Gesellschaft. Das gelingt Rhona Mühlebach so amüsant, ironisch und unverkrampft, dass man eigentlich nicht zu viel verraten darf von diesem 9-Minüter. Das muss man schon selbst sehen. 

Die Stärke der Schau ist ihre Vielstimmigkeit

Insgesamt steht in der Werkschau im Kunstraum vieles nebeneinander, was man nur schwer zusammenbringt. Das ist allerdings kein Mangel, sondern gerade die Stärke der Schau: Sie gibt jungen Künstlerinnen (Martina Böttiger, *1980), ebenso eine Plattform wie älteren Künstlerinnen (Esther van der Bie, *1962), es sind Künstler (Dieter Hall) vertreten aber natürlich auch Künstlerinnen (der Rest), Malerei und Zeichnung (Dieter Hall, Cécile Hummel) treffen auf Video (Susanne Hefti, Rhona Mühlebach) und Installation (Martina Böttiger, Karin Schwarzbek), aktuelle Themen (Cécile Hummel, Susanne Hefti) mischen sich mit grundlegenden Fragen des Mensch-Seins (Karin Schwarzbek). Vielleicht ist das am Ende die grösste Leistung dieser Episode der Werkschau: Sie ist ein Plädoyer für gesellschaftliche Diversität.

Termine: Die Werkschau Thurgau ist bis zum 17. November im Kunstraum Kreuzlingen & Tiefparterre zu sehen. Am Samstag, 9. November, 18.30 Uhr: Fondues Des Artistes im Kunstraum Kreuzlingen (Anmeldung bis 7. November erforderlich an tisserand@kunstraum-kreuzlingen.ch). Der Kunstraum Kreuzlingen ist geöffnet Fr 15 bis 20 Uhr sowie Sa/So 11 bis 16 Uhr. Der Eintritt ist frei. Die Ausstellung im Internet: www.werkschautg.ch 

Richard Tisserand, Kurator des Kunstraum Kreuzlingen bei der Vernissage der Werkschau Thurgau am 26. Oktober 2019. Bild: Caroline Minjolle, Kulturstiftung des Kantons Thurgau

 

Besucher betrachten Esther van der Bies «Handlungen der Sehnsucht: Die Vermessung des Himmels» an der Vernissage der Werkschau Thurgau 2019. Bild: Caroline Minjolle, Kulturstiftung des Kantons Thurgau

 

 

Weitere Texte zur Werkschau Thurgau

Auf Sisyphos’ Spuren: Bericht zur Vernissage vom 26. Oktober 2019.

9 Dinge, die Sie über die Werkschau Thurgau 2019 wissen sollten: Vorschau mit 9 Fragen und Antworten rund um die Werkschau

Verzauberte Alltäglichkeit: Besprechung der Ausstellung in der Kunsthalle Arbon

Spuren, die Geschichten erzählen: Besprechung der Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau

Raus aus der Theorie, rein ins Leben: Besprechung der Ausstellung im Shed Eisenwerk Frauenfeld

 

Themendossier: Alle Texte, die zu dieser und den vorangegangenen Werkschauen erschienen sind, gibt es gebündelt in unserem Dossier „Werkschau Thurgau".

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