von János Stefan Buchwardt, 23.07.2020
Ein Bild wird Fossil
Vom Coiffeur zum Maler: Vor 10 Jahren starb der Thurgauer Künstler Johannes Diem. Warum es Zeit wird für eine Wiederentdeckung.
Was den lautstarken Einsatz für Aktualitäten angeht, war Johannes Diem (1924 – 2010) höchstens auf Umwegen auf der Höhe seiner Zeit. Radikales Umdenken in Technologiefragen, Kernkraft-Gegnerschaft und direkter Umweltschutz waren für sein Schaffen untergeordnet. Und doch wurde ihm die Liebe zur Unversehrtheit der Natur auf stillerem Weg zum Lebensinhalt. Seine reife Phase prägte sie in jedem Fall. Übersteigerte Naturergebenheit hatte sich bei ihm aus höchstpersönlichen Gründen ergeben.
Zurückgeblättert in seiner Lebensgeschichte: Es kam vor, dass der einstige Verdingbub hinausgeschickt wurde und erst zu unbestimmter Zeit zurückkehrte. Irgendwo im Gras sitzend, in einer Blumenwiese versunken. Von Heim zu Heim gereicht, schliesslich Unterschlupf bei der Heilsarmee gefunden, von deren Obhut aus man das Kind an Adoptiveltern in Herisau vermittelte.
Wenn es in einer Besprechung über Diem heisst, in all seinen Ölbildern, Farbstift- und Bleistiftzeichnungen hätte sich kindliches Staunen vor den Wundern der Natur bewahrt, möchte man das auf die ursprünglich vereinsamte Bubenpsyche zurückführen. Eine damals überlebenssichernde Natursensibilität, die später den erwachsenen Mann auf seine Art existentiell darum bemüht sein lässt, das überreiche Spiel diverser Lebensformen hyperrealistisch auf die Leinwand zu bannen.
Plädoyer für Harmonie
Diem lebte bedürfnislos und zurückgezogen. Auf dem Höhepunkt seines Künstlertums dachte und genügte er sich von seinen Schaffensorten aus: ein Atelier in einer Scheune in Wäldi, später in seiner Vierzimmerwohnung in der Hardmühle in Ermatingen. Das Südufer des Untersees war sein Revier. Das auf einem ansteigenden Bachdelta liegende Ermatingen, die Biotope der Gegend, Kiesgruben, das Naturgebiet «Trubeschloo» bei Homburg, die Landschaft der Bommer Weiher. Sein Wirkungskreis beschränkte sich mehrheitlich auf die Ostschweiz.
Auf der Suche nach Ausgewogenheit, nach ungezwungen wirkenden Kompositionen findet der Maler seine durchdringende Kraft. Seinen besseren Werken Renommee zuzusprechen, geschieht nach wie vor in kleinem Rahmen. Noch. Ein marktschreierischer Naturaktivist war er nicht. Anfangs als leidenschaftlicher und beliebter Damen-Coiffeur, mit Salon in Zürich, Fuss fassend, heiratete er kurz darauf und wurde Vater zweier Kinder.
Kein schmetternder Prophet, der sich auf so etwas wie Biodiversität berief. Ein Arrangeur von Hochsteckfrisuren. Sein Metier: feminine Lockenpracht, Eleganz und Erhabenheit. Das grosse Tier- und Blumensterben in seiner vollen Wucht erahnte er erst viel später und schien es früher und inniger abwenden zu wollen als viele andere.
Das erschaffene Schöne
Dann schuf und wertschätzte Diem ein Bild, in dem sich sein ganzes Wesen offenbart. Jahrelang habe er daran gearbeitet, berichtet seine Tochter Bettina. Käuferschaften rissen sich darum. Er erklärte es für unveräusserlich und muss gespürt haben, dass es ihn weit über sich selbst hinausgeführt hat. Es geschaffen zu haben, ohne explizit gottesfürchtig zu sein? Ohne eine gesellschaftliche oder anderweitig planvolle Ambition im Hinterkopf?
Das in Privatbesitz befindliche Bild «Blumenwiese», datiert auf 1976, gemalt auf Pavatex, gehört zu den grossen, wenn nicht grössten Formaten des Untersee-Malers. Auf 90 cm Breite und 122 cm Höhe am obersten Punkt des Rundbogens hat Diem der Nachwelt etwas Eindrückliches hinterlassen. Natürlich, bestätigt Bettina, ihr Vater habe sich ihr gegenüber zu dem Werk geäussert. «Für ihn war es ein ‹Masterpiece›, geradezu eines seiner Lieblingskinder», entsinnt sie sich.
Dem Mysterium auf der Spur
Die blütenprächtige Naturschneise aus Wiesenblumen zeugt davon, dass Politik und landeskirchliche Glaubensvorstellungen für den Künstler tabu gewesen sein müssen. Bettina bestätigt: «Die Religion meines Vaters war einzig die Perfektion und Schönheit der Natur.» Die pralle Einsamkeit des Werks ist mit einem Hauch Psychedelik gepaart, dem weltabgeschiedenen Volumen der Waldlichtung eine himmelschreiende Euphorie eingeschrieben. Und birgt das Gemälde nicht genau darüber Anstösse zu religiösem und politischem Denken und Handeln?
Indem der Naturmaler eine Dynamik des Unberührten zum allumfassenden Verbundenheitsgefühl hochstilisiert, trifft er etwas Elementares. Wo er souveräne schöpferische Gesten in eine lebensrettende Bildsprache des Organischen überführt, ruft er zum Respekt vor dem Wesen des Naturschönen auf. Und zu dessen dringlicher Wahrung. Eine ihm heilige Pflicht. Der Einschätzung, mit der «Blumenwiese» einen Schatz gehoben zu haben, pflichtet Markus Landert, Direktor des Kunstmuseums Thurgau, gerne bei.
Ein sich versenkender Sonderling
Toupierkamm, Föhn und Haarspray hatte Diem definitiv eingetauscht, als er 1968 sein Geschäft verkauft und schon ein Jahr zuvor mit der Familie in den Thurgau gezogen war. Es sei überspitzt ausgedrückt, meint Bettina: «Meine Mutter hatte einen extrovertierten, gutverdienenden Coiffeur geheiratet, der sich in einen eigenbrötlerischen Künstler verwandelte.» Jemanden, der nicht ohne Zeichenblock und Stift aus dem Hause ging und sein wollte «wie eine Blume im Felde.»
War er ein Müssiggänger, der seine Familie zu wenig im Auge hatte? Ein in Fleisch und Blut übergegangener «Wanderer über dem Nebelmeer», mit aktuellen Heilungsvorschlägen im Gepäck? Caspar David Friedrich und die Symbole der Romantik waren ihm nicht fremd. Über die Mittel des Malerischen und Erhabenen wird ihm seine Botschaft untergründig zum Appell an das Gewissen der Welt.
«Vielleicht müsse das Bild», holt Landert aus, «als durchaus ernsthaft zu verstehendes Manifest für einen sorgfältigen Umgang mit der Natur verstanden werden, wobei der Einsatz für den Naturschutz damit beginnt, dass aufgezeigt wird, dass jede Blume, jedes Insekt Teil eines grossen zusammenhängenden Ökosystems ist.»
Pulsschlag der Kunst
Bekannt und anerkannt sein, Förderer, Mäzene, Galeristen – das stand ein Leben lang in Widerspruch zu Diems selbstgewählten Eremitentum. Insgeheim also wird die Wiesenkollektion zur scheuen Schau des Wunderbaren. Die, die sie schauen, die Blumen und Insekten, werden in ihren Bann geschlagen. Miteinander verflochtene Organismen im Schoss des Evolutionsgeschehens, Modifikationen des Artenreichtums. Wer entdeckt was? Die Werke Diems sind weit mehr als Suchbilder, die in ihren besten Ausprägungen übermannen. Eine Blumenwiese wird beispielgebender Wandlungs(t)raum.
Im reifen Werk hält der Künstler das absolut Wesenhafte stets unter Ausblendung der Krone der Schöpfung fest. Er scheint den Menschen nur deshalb auszusparen, um dessen Anmassung und Simplizität, vielleicht sogar selbstanklägerisch und fernab von einem herbeigesehnten Garten Eden, verhandeln zu können. Was an seinen Sehnsuchtsorten surrt und summt, kreucht und fleucht, speist sich aus tiefliegenden Überzeugungen und innerer Aufrichtigkeit.
Kaleidoskop des Lebens
Mythologisch sirrend, metaphorisch schwelend, in ihren feingliedrigen Auswüchsen mag die «Blumenwiese» an das Kreidolfsche Bilderbuchmilieu, an Dietrichsche Naturergebenheit und Rousseausche Unschuld erinnern. Fünf Jahre nach Vollendung des Gemäldes sollte der Lebenslauf des Künstlers herbe Rückschläge erfahren:
Der Krebstod seiner Frau, der Herztod seines damals 21-jährigen Sohnes Jonas. Familienidylle war zum Fremdwort geworden, das Verhältnis zur Tochter trübte sich. Umso mehr fand Diem Aufgabe und Berufung in seiner Kunst. Sein Leben als Freischaffender war von Anfang an Hasardspiel. Lebensfreude, Selbstvertrauen und eine Stehaufmännchen-Mentalität liessen ihn aus jeder noch so tragischen Situation das Beste herausholen. Dass er sich in späteren Jahren einer patenten Freundin anvertrauen konnte, war glückliche Fügung.
Das Horazsche «Carpe diem»
Der geborene Geschäftsmann war Diem in der Tat nicht. Erfolg bedeutete Überforderung. Bezeichnend ist, dass man ihm – innerhalb eines relativ kleinen Kreises von vornehmlich Ostschweizer Sammlern – die in regelmässigen Zeitabständen ausgestellten Werke buchstäblich unter den Nägeln wegriss. Nicht selten wurde er handkehrum für sein eigensinniges Künstlerleben und seine Kunst belächelt. Nach jeder Ausstellung, so Bettina, sei er in eine Phase der Trauer gestürzt. Die «Blumenwiese», das von ihm selbst gefertigte Porträt seines (einzigen) Künstlerfreundes Willi Hartung und die Familienbilder, die er sorgsam aufbewahrte, gaben ihm Halt.
Resümierend: Diems Vokabular mischt Idealisierendes und Vereinfachungen. So bedient sich sein Naturalismus einer Naivität, die über kindliche Magie zu aufrüttelnden Chiffren findet. Abgelöst vom Untergrund evozieren solche infantilen Konturen den für ihn typischen Traumbildcharakter. Schliesslich wird dem Autodidakten Poesie unter der Hand zur direkten Hinführung zum Glaubensbekenntnis.
Ein Freidenker mit grossem Kompositionswillen? Sein in einer Waldlichtung aufgehobener Blumenteppich ist eigenwillige Passion. Still und verspielt ruft sie aus und in sich hinein. Diem pflückt sich den Tag: So finden eine Handvoll Käfer, «Gümper» und Hummeln, um die fünfzehn Schmetterlinge und zwei Finken innerhalb unzähliger Wiesenblumen, unter Gräsern, vergoldeten Ähren und sonstigen Blütenständen in einer Waldregion zusammen. Glänzend darüber ein in Blattgold gearbeitetes Firmament.
Kuriosa der Biografie
Diems gab es noch bis vor nicht allzu langer Zeit als Secondhand-Erlebnis im Brockenhaus der Heilsarmee in Frauenfeld. Nein, seine Tochter hatte den Nachlass nicht einfach «verschachert», wie in der damaligen Presse angedeutet wurde. Sie überliess ihn, weil Diem selbst es so wollte: eine Dankesgeste dafür, dass man ihn als kleinen Buben auffing. Restbestände, Zweitklassiges, die Bilderecke im «Brocki» hatte an die hundert Werke im Sortiment. In einer überstürzten Aktion konnte das Kunstmuseum Thurgau anfangs noch Relevantes für sich sichern.
Es muss nicht zwangsläufig so sein, aber für einmal ist des Künstlers liebstes Bild auch eines seiner besten. In der Gegend um den Ermatinger Lilienberg herum, im geschichtsträchtigen Gelände des ehemaligen Herrensitzes aus dem 19. Jahrhundert, holte er sich die Inspiration für seine «Blumenwiese». Wer weiss, ob er heutzutage aufgrund der ununterbrochenen Expansion zivilisatorischer Natureingriffe gänzlich verzweifeln oder noch weltabgewandter und durchdringender malen würde!
Vielleicht haben die Diemschen Interventionen als ergreifendes Engagement für die Unversehrtheit der Biosphäre eine Chance, erhört zu werden. Zersiedelung und Zerschneidung der Kulturlandschaft, Habitatverlust für Tiere und Pflanzen, Versiegelung der Böden, das Verschwinden der Nachtdunkelheit und Schlimmeres hätte er sich weggemalt und auf diese Weise umso stärker darauf verwiesen.
Als er der Welt abhandenkam, kam er sich selbst noch näher. Aufgrund einer Alzheimererkrankung musste er sein Zuhause verlassen und lebte von 2005 bis zu seinem Tod im Jahre 2010 in einer Pflegeeinrichtung in Berlingen. Für den Moment verfügbar zu sein, darin war er zu Hause. Und in der Überzeugung, dass die Natur unserer Verstandeskraft, unseres Erinnerungsvermögens nicht bedürfe.
Termin: Für Sonntagnachmittag, 18. Oktober um 14 Uhr, wird in Kooperation mit dem Haus zur Glocke zu einem Fach-Gespräch eingeladen. Dabei wird mit der «Blumenwiese» von 1976 ein Hauptwerk des Künstlers Johannes Diem im Zentrum stehen. Gesprächspartner aus Kunst und Kultur gehen der Fragestellung «Diem – Naturliebhaber mit Mission?» nach.
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