von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 15.03.2018
Nenn mich Kassandra!
Zwischen Wahnsinn und Hellsichtigkeit: Die verstörende Geschichte von Aby Warburg berührt noch heute. Jetzt bringt das Theater Konstanz sie in Kreuzlingen auf die Bühne
Kreuzlingen als Zufluchtsort für die Geistesgrössen einer Zeit? Die kleine Stadt am Bodensee gewissermassen als europäische Kulturhauptstadt und Hot Spot für die kulturelle Avantgarde? Was heute komisch klingt, war tatsächlich mal so: Im beginnenden 20. Jahrhundert lebten die Stars ihrer Zeit in Kreuzlingen. Der Maler Ernst Ludwig Kirchner, der Tänzer Vaslav Nijinsky, der Dichter Simon Frank, der Schauspieler Gustaf Gründgens. Sie alle hielten sich in Kreuzlingen auf. Freilich nur auf Zeit - sie waren Patienten des Sanatoriums Bellevue, einer Nervenheilanstalt, die damals wegen ihrer modernen und individuellen Behandlung Weltruf genoss. Als Aby Warburg am 16. April 1921 in die Klinik von Ludwig Binswanger kam, war er nur ein in Fachkreisen bekannter Kunsthistoriker. Erst später sollte er zu einem der bedeutendsten Kunstwissenschaftler werden. Warburg begründete die Ikonographie als eigene Wissenschaft und lehrte die Kunst, aus und in Bildern zu lesen.
Aby Warburg, erster Sohn einer jüdischen Bankiersfamilie aus Hamburg, galt zeitlebens als schwieriger Zeitgenosse, als wunderlicher Kauz. Dass er in der Kreuzlinger Klinik landete, lag an seinen Wahnvorstellungen. Obgleich er nicht selbst als Soldat an der Front im Einsatz war, hatten die Ereignisse des Ersten Weltkriegs sein Innerstes erschüttert. So sehr, dass er sich in den letzten Tagen des Krieges in seinem Haus in Hamburg von herannahenden Bolschewiken oder auch Antisemiten verfolgt gefühlt hat, eine Pistole ergriff, um damit der Bedrohung zuvorzukommen, indem er sich und seine Familie umbrachte. So weit kam es nicht. Nach der Einweisung in eine Hamburger Privatklinik, wurde er erst in Jena behandelt, dort kam man aber nicht weiter, so dass der dortige Klinikleiter die Kollegen in Kreuzlingen um Übernahme seines Patienten bat, wegen Warburgs nicht zu ertragenden Schreien.
Ahnte da jemand die Schrecken des Zweiten Weltkriegs?
Auch im Bellevue wurde sein Zustand zunächst nicht besser. Warburg wurde auch hier gequält von brutalen Wahnideen wie jener, seine Angehörigen würden in den Nachbargebäuden gefangen gehalten, gefoltert, getötet, zerstückelt und ihm als Speise gereicht. Ahnte da jemand die Schrecken des Zweiten Weltkriegs? Im Nachhinein gab es immer wieder Deutungen, die Warburg zu einem Propheten des Nazi-Terrors machten.
Eine Bank, zwei Stühle: So sah es damals auf dem Gelände des Sanatoriums Bellevue aus. Bild: By h.j. hellweg, artklinic@yahoo.com [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
Die bewegende Geschichte von Aby Warburg wird nun Stoff eines Theaterstücks. In „Aby Warburg. Gespräche mit einem Nachtfalter“ inszeniert Regisseur Oliver Vorwerk für das Theater Konstanz eine Art Kammerspiel, das mit „poetischen Bildern die Innensicht einer Persönlichkeit“ auf die Bühne bringen will. Und das unweit des früheren Klinik-Areals - im neuen Kulturzentrum Kult-X läuft die Uraufführung am Mittwoch, 21. März. Die Nervenheilanstalt ist seit 1980 geschlossen. Auf dem Gelände sind heute eine Venenklinik und viele Wohnungen entstanden. Grundlage des Stücks ist der Text des Konstanzer Autors Gerd Zahner. Der hat sich in den vergangenen Jahren vor allem einen Namen als unbequemer Heimatdichter gemacht. In Singen hat er grossen Unternehmen wie Maggi und Georg Fischer den Spiegel vorgehalten, wie sie mit Zwangsarbeitern in der NS-Zeit umgegangen sind, in Radolfzell hat er die Geschichte einer in der Stadt lieber vergessenen alten Ss-Kaserne wieder aufgerollt, in Tengen hat er an das Schicksal eines polnischen Zwangsarbeiters erinnert, der kurzerhand an einem Baum aufgeknöpft wurde, weil er angeblich mit einem Mädchen aus dem Dorf was hatte. Widerstände gab es überall gegen diese Aufführungen, meistens konnte Zahner die Entscheider am Ende von der Notwendigkeit der Projekte überzeugen.
Der Autor hat sich den Ruf des unbequemen Heimatdichters erarbeitet
Was ist das für ein Mensch, der seine Heimat so unnachgiebig an ihre Vergangenheit erinnert? Gerhard Zahner, geboren 1957 in Singen. Er wächst in normalen Verhältnissen auf. Sein Vater ist Angestellter, seine Mutter bleibt Zuhause und kümmert sich um die Kinder. Als Schüler schreibt er für Lokalzeitungen, nach dem Abitur geht er nach Freiburg und studiert Jura. Danach das Referendariat in Berlin. Dort bleibt er aber nur ein paar Jahre. Danach entscheidet er sich, wieder zurückzugehen in den Südwesten, in seine Heimatstadt Singen. Die lokale Verwurzelung ist stark, seine Anwaltskanzlei eröffnet er trotzdem in der Nachbarstadt Konstanz. Fachgebiete: Straf- und Familienrecht. Die Kanzlei läuft. „Wir setzen Ihre Ansprüche mit Konsequenz und Zielstrebigkeit durch“, wirbt der Anwalt im Internet. Seine Kanzlei firmiert unter „Gerhard Zahner“. Zum Gerd wird er nur als Autor, „meine Mutter hat mich Gerd genannt, das ist was Privates“, sagt er.
Die Schreiberei gibt er trotz vollem Anwaltskalender nie auf. Abends, nachts, an Wochenenden, Zahner ist ein Workaholic. Ein Thema, das ihn einmal gepackt hat, lässt er so schnell nicht wieder los. Dass er sich dabei so intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt hat auch mit seiner Familiengeschichte zu tun. Sein Vater war kein überzeugter Nazi, kam aber auch traumatisiert aus dem Krieg nach Hause. Über seine Erlebnisse hat er nie gesprochen. Die Kinder merken nur, dass etwas anders ist, weil sie bei Feuerwerk draussen jetzt immer die Fenster schliessen müssen. Der Vater kann sonst nicht schlafen. Zum Erweckungserlebnis wird aber etwas anderes. Als junger Mann liest Gerd Zahner ein Buch. Darin findet er die Geschichte von Nachbarn und Freunden seiner Eltern. Sie hatten verfolgten Menschen während der NS-Zeit als Fluchthelfer gedient. Der Mann landete vorübergehend im KZ, aber in seinem Elternhaus wurde all das nie thematisiert. „Es herrschte ein Dogma des Schweigens und ich weiss noch, dass ich es damals als entwürdigend empfunden habe, nichts über die Geschichte unserer Freunde zu wissen“, sagt Zahner. Es war der Ausgangspunkt von allem weiterem Schreiben. Zahner wollte das Schweigen brechen, er wollte über die Untaten und vom Leid der Opfer berichten, „denn wenn alles beschwiegen werden kann, ist alles irgendwie auch gleich, es relativiert Dinge, die man nicht relativieren kann“, so der 60-Jährige.
Zahners Geschichten führen immer zu Diskussionen
Mit seinen Projekten ist Gerd Zahner in der Bodenseeregion inzwischen bekannt geworden, er wird auch schon mal auf der Strasse erkannt. Aber kaum einer kennt ihn so gut wie Walahfrid Schrott. Sie haben dieselbe Schule besucht, haben die Sommer gemeinsam im Freibad verbracht, kennen sich seit Jugendtagen. „Der Gerd hatte schon immer ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, er hielt immer zu den Schwächeren“, erinnert sich Schrott. Das zeige sich auch heute noch in seiner Arbeit als Autor, er wende sich den Opfern zu, wolle ihnen so etwas wie späte Gerechtigkeit ermöglichen, vermutet der Jugendfreund. „Schreiben ist seine Berufung, ich glaube, wenn er davon leben könnte, würde er die Juristerei an den Nagel hängen“, meint Schrott. Zahners grösste Stärke? „Er hat ein Gespür für lokale Themen, er gräbt immer wieder Dinge aus, die noch nicht so richtig bekannt waren. Gerd ist im besten Sinne ein Chronist unserer Region mit dem Talent, die Geschichten so aufzubereiten, dass sie die Menschen berühren, zu Diskussionen führen und einen Prozess in Gang setzen“, lobt Walahfrid Schrott. Ob er nicht auch manchmal nerve mit seiner Vergangenheits-Besessenheit? „Nein, gar nicht. Gerd ist ein unverbesserlicher Optimist, der daran glaubt, dass wir aus unserer Vergangenheit lernen können und müssen. Deshalb macht er das alles“, ist der Weggefährte überzeugt.
Stellt sich gerne in den Gegenwind: der Theaterautor Gerd Zahner. Bild: http://www.kanzlei-zahner-konstanz.de
Gerechtigkeitsjäger, Vergangenheitsbewältiger, Volksaufklärer, es gibt viele Etiketten, die man Gerd Zahner aufkleben könnte. Welches ihm selbst am besten gefällt? Der Autor winkt ab, die Beurteilung überlasse er anderen, aber die Sache mit der Gerechtigkeit sei schon ein wichtiger Punkt. „Gerechtigkeit beruht auf Wahrheit. Dazu versuche ich mit meinen Stücken beizutragen. Dinge so aufzuschreiben, wie sie waren, ohne den Zeigefinger zu erheben. Ich biete etwas an, aber der Zuschauer muss aus der Geschichte seine eigene Wahrheit finden“, erklärt Zahner.
Mit der historischen Wahrheit nimmt es der Dichter nicht immer so genau
Dass mit der Wahrheit ist natürlich so eine Sache. Von Historikern ist Zahner immer wieder angegangen worden, dass er nicht exakt arbeite, nicht alle Fakten historisch korrekt wiedergebe. Das war auch das Problem in der Auseinandersetzung um das Stück „Die Unerwünschten“ über den berühmten Wissenschaftler Hans Robert Jauss , das 2014 uraufgeführt wurde. Darin hatte Zahner nahe gelegt, dass die Ikone der Romanistik und einer der Säulenheiligen der Universität Konstanz sich in der Nazizeit schuldiger gemacht habe, als er zeitlebens selbst behauptet hatte. Demnach soll Jauss an der Selektion französischer Freiwilliger für die Waffen-SS in das Konzentrationslager Stutthof beteiligt gewesen sein. Historisch zweifelsfrei nachgewiesen wurde das bislang nicht. Ein von der Universität Konstanz in Auftrag gegebenes Gutachten kam 2015 zu dem Schluss, eine individuelle Tatbeteiligung von Jauss sei zwar nicht nachzuweisen; „es ist jedoch völlig ausgeschlossen, dass Jauss von den Verbrechen keine Kenntnis hatte.“ Er verstehe die Historiker-Kritik, sagt Zahner, aber er mache die Dinge eben auf seine Art. „Ich sehe ein System, eine Farbe und die will ich zeigen“, sagt er. In seinen Stücken greift Zahner einzelne Situation heraus, die dann auf das grosse Ganze verweisen sollen. Das Pars-pro-toto-Prinzip. Zahners Sprache changiert von poetisch bis rätselhaft. Für Regisseure, die damit arbeiten sollen, ist das eine Herausforderung.
Wer wissen will, wie es ist mit Gerd Zahner zu arbeiten, der kann mal bei Anna Hertz nachfragen. Die Schauspielerin und Regisseurin hat in den vergangenen Jahren mehrere Projekte mit dem Singener Autor gemacht. Ihre Erfahrung? „Also es ist ihm schon wichtig, dass man seinem Stoff gerecht wird. Wenn er einem vertraut, dann kann er sich aber auch rausnehmen und einen machen lassen“, sagt Hertz bei einem Cappuccino in einem Konstanzer Café. Zuletzt haben sie gemeinsam die Geschichte eines polnischen Zwangsarbeiters auf die Bühne gebracht, der in der NS-Zeit gehängt wurde, weil er angeblich mit einem Mädchen aus dem Dorf etwas hatte. Sehr intensiv sei diese Erfahrung gewesen, „wahrscheinlich das intensivste Theatererlebnis, das ich je hatte“, sagt die Regisseurin. Was die Arbeiten von Zahner so besonders mache? „Er öffnet Türen für die Menschen, gemeinsam an ihrer Geschichte zu arbeiten“, findet Hertz.
Der Nationalsozialismus als Blaupause des Schreckens
Diese Geschichte, das ist bei Gerd Zahner sehr oft vor allem Nationalsozialismus. Da schliesst sich dann auch der Kreis zu Zahners Interesse an dem Fall Warburg. Zahners Lust an der Auseinandersetzung mit der Nazizeit hat zum einen mit seiner eigenen Familiengeschichte und dem beharrlichen Schweigen seines Vaters zu tun, aber nicht nur. Zahner hat in den Geschehnissen von damals ein Muster erkannt. Darin sei eine Matrix enthalten, deren Strukturen sich immer und immer wiederholten: „Der Nationalsozialismus liefert eine Blaupause für den Schrecken“, sagt Zahner. Die Erkenntnis hat der Singener nicht exklusiv. Trotzdem treibt sie ihn an. Fatal daran für ihn vor allem: Radikale Kräfte auf der ganzen Welt hätten dies auch erkannt und kopierten nun die Strukturen. Das Spektrum reiche dabei von muslimischen Fudamentalisten bis zu rechtsradikalen Strömungen. Auch der so genannte Islamische Staat (IS) habe die Methoden der Nazis übernommen. Deshalb ist er überzeugt: „Es ist nur eine Frage der Zeit bis wir in den früheren Gebieten des IS beispielsweise Massengräber von Zwangsarbeitern finden, so wie wir sie damals nach dem Zweiten Weltkrieg gefunden haben.“ So lange die Menschen nicht aus diesen Mustern lernten, will er weiter schreiben und dazu beitragen, dass diese Matrix entschlüsselt und die Masche entlarvt wird, „damit niemand mehr darauf reinfällt“, so Zahner.
Bis es soweit ist, hilft laut Zahner nur: Sich den radikalen Kräften entgegenzustellen und eine Gegenidee zu entwickeln. Wie die aussehen könnte? „Ich finde zum Beispiel, Flüchtlinge aufnehmen ist eine Gegenidee zu Flüchtlinge umbringen.“ Humanität als Antwort auf Radikalität? „Ja, daran glaube ich“, sagt Zahner.
Termine: Die Premiere von "Aby Warburg. Gespräche mit einem Nachtfalter" läuft am Mittwoch, 21. März, 20 Uhr, im Kult-X auf dem Schiesser-Areal. Sie ist bereits ausverkauft. Weitere Aufführungen: 25./31.März; 5./6./12./13./27. und 28. April. Beginn jeweils 20 Uhr. Tickets für alle Aufführungen gibt es hier: http://www.theaterkonstanz.de/tkn/veranstaltung/09028/index.html
Weitere Beiträge von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter
- Alte Mauern, neue Gedanken (11.11.2024)
- Auf Kinderaugenhöhe (21.10.2024)
- Was hält uns zusammen? (16.10.2024)
- «Falsch gespart»: Kritik am Sanierungs-Stopp (15.10.2024)
- Die Entdeckung des Raums (11.10.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Bühne
Kommt vor in diesen Interessen
- Vorschau
- Schauspiel
Ähnliche Beiträge
Herr Fässler besiegt die Angst
Therapeutin trifft auf Zyniker: In der Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld ist mit „Herr Fässler und die Stürme der Liebe“ zu erleben, wie sich eine Puppe von ihrer Puppenspielerin emanzipiert. mehr
Problemfamilie mit Wiedererkennungswert
Die Eigenproduktion „Familienidylle“ des theagovia theater zeigt eine Familie im Ausnahmezustand, der vielleicht gar nicht so ungewöhnlich ist. mehr
«Ich will auch nicht immer in den Abgrund schauen.»
Die Schauspielerin und Produzentin Susanne Odermatt hat sich in den vergangenen Jahren als Spezialistin für Dramen einen Namen gemacht. Jetzt bringt sie eine Komödie auf die Bühne. mehr